Andreas Ulbig

Professor für Aktive Energieverteilnetze an der RWTH Aachen

Smarte Netze für die Energiewende

Der Ingenieur Andreas Ulbig optimiert an der RWTH Aachen und am Fraunhofer-Zentrum Digitale Energie mit KI die Auslastung von Stromnetzen – und achtet dabei auf seine persönliche Work-Life-Balance.

Wie kann ein Stromnetz optimal genutzt werden? Diese Frage besteht aus vielen Aspekten – und im Zuge der Energiewende kommen ständig neue dazu: Wie lassen sich mehr Photovoltaik und Windenergie integrieren? Wie bleiben Netzkomponenten länger in Betrieb? Wie kommen KI-getriebene Innovationen zu den Netzbetreibern? Andreas Ulbig hat sie am Lehrstuhl für Aktive Energieverteilnetze am Institut für Elektrische Anlagen und Netze, Digitalisierung und Energiewirtschaft (IAEW) an der RWTH Aachen alle im Blick.

Ulbig, der auch Gruppenleiter für Elektrische Energiesysteme am neu gegründeten Fraunhofer-Zentrum für Digitale Energie (Fraunhofer FIT) in Aachen ist, nutzt neuronale Netze und KI-Methoden, um Schwachstellen im Energiesystem zu finden. Das können Fehler in den Messdaten sein. Oft geht es aber auch um physische Sensoren, die sich ersetzen lassen – durch cleverere Algorithmen. Für Ulbig sind KI-Methoden einfach „nützlich, um große unstrukturierte Datenmengen, wie es Messdaten vom Stromnetz sind, nach Fehlern, Macken und Anomalien zu durchsuchen.“

Ein bisschen Tiefstapelei ist hier schon dabei, denn seine Arbeit ist alles andere als leicht – und ausgesprochen zukunftsträchtig. Ulbig sieht sich selbst als Wissenschaftsmanager an der Schrittstelle zwischen klassischer Elektro- und Energietechnik sowie Digitalisierungsthemen. Und stellt dabei wichtige Weichen. Schließlich bildet er die nächste Generation an diplomierten und promovierten Ingenieurinnen und Ingenieuren aus, mit denen er Work in Progress betreibt. „Wir fragen uns mit knapp 30 Doktorandinnen und Doktoranden jeden Tag, welche Daten im Stromnetz wir messen sollen“, sagt Ulbig. „Was können wir damit berechnen? Wo bräuchten wir vielleicht noch Sensoren?“

Hohe Datenqualität für Datenanalysen im Smart Grid

Gerade für smarte, verteilte Stromnetze ist eine hohe Datenqualität wichtig. Aber ein Maximum ohne Fehler wäre für die Betreiber schlicht zu teuer. Anders gesagt: „Die Kommunikationsfähigkeit der Sensorik ist nicht hundertprozentig ausfallsicher“, erklärt Ulbig. In der Regel liegen Sensordaten vor, die zu ein bis fünf Prozent nicht korrekt sind. Und eben diese Fehler müssen automatisiert herausgefiltert werden. Dazu arbeitet die Forschungsgruppe von Andreas Ulbig mit Informatik-Lehrstühlen an der RWTH Aachen zusammen. Sie möchten gemeinsam herausfinden, wie die Modelle strukturell angepasst werden können, um Daten zu reinigen und Prognosen zu berechnen.

Von der Innovation zur Gesetzesänderung

Vor seiner Berufung an die Exzellenzuniversität RWTH Aachen war Andreas Ulbig Mitgründer und COO des Schweizer Startups Adaptricity, einem Spinoff der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH Zürich). Das Startup entwickelt Netzbetriebs- und Netzplanungstools, die für die smarten Netze der Energiewende notwendig sind. Der in Ostberlin aufgewachsene Ulbig gehört international zu den Vorreitern, wenn es darum geht, Stromnetze für die volatilen erneuerbaren Energien fit zu machen.

Dabei geht es nicht nur um technische Lösungen, sondern auch um gesellschaftliche und politische Fragen, wie Ulbig nur zu gut weiß. Als Vizepräsident der Schweizer Energiestiftung, einer NGO, die in der Anti-AKW-Bewegung wurzelt und sich heute mit erneuerbaren Energien und Energiesuffizienz befasst, verfolgt er hautnah, wie technische Innovationen die Politik erreichen.

Adaptricity fand heraus, wie sich aus zehntausenden Datenpunkten sinnvolle Rückschlüsse für den Netzbetrieb ziehen lassen. „Spannenderweise haben unsere Ergebnisse mit dazu geführt, dass in der Schweiz das Gesetz zum Thema Smart Metering angepasst wurde,“ erzählt Ulbig. Das Gesetz erlaubt jetzt ganz generell die Datennutzung für technische Analysen, wenn auch unter Datenschutzauflagen. Anders in der EU, wo diese Art der Nutzung durch die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) unter einem Erlaubnisvorbehalt der Betroffenen steht.

In seinen Datenanalysen hatte das Startup festgestellt, „dass es nicht so einfach wäre, Leute auszuspionieren, weil die zeitliche Auflösung der Daten zu gering ist“. Man konnte eben nicht wie von Datenschützern befürchtet feststellen, bei wem welches Fernsehprogramm läuft oder ob ein Toaster angeschaltet wurde. Allgemeine Aussagen waren hingegen möglich. Ulbig: „Wenn Sie eine Woche in den Urlaub fahren, dann sieht man das an Ihrem Stromverbrauch.“

Wirklich relevant ist jedoch die Datenauswertung auf Quartiersebene, betont Ulbig: So lässt sich mit den aktuellen Verbrauchsdaten die lokale Netzbelastung bestimmen. Ein Netzbetreiber kann auch latente Engpässe im regionalen Netz feststellen oder sehen, ob es in bestimmten Stadtteilen besonders viele große Stromverbraucher wie E-Autos gibt. Damit tragen die mit den Smart Metern mehrmals am Tag erfassten Verbrauchsdaten dazu bei, die Netzplanung zu verbessern.

Der systemische Blick auf die Energienetze

Seit seiner Schulzeit in Berlin Anfang der 90er-Jahre beschäftigt sich Andreas Ulbig mit erneuerbaren Energien und Nachhaltigkeitsthemen. Mit der Elektrotechnik-AG nahm er auf Landesebene erfolgreich an „Jugend forscht“-Wettbewerben teil. „Praktisch etwas umsetzen, Maschinen bauen oder maschinentechnische Systeme planen, das war das, was ich machen wollte“, erinnert er sich. Nach der Schule entschied er sich für ein Studium der Allgemeinen Ingenieurwissenschaften an der Technischen Universität Hamburg (TUHH), da er sich nicht auf Maschinenbau oder Elektrotechnik oder Informatik festlegen, sondern einfach alles können wollte.

„Das war dann leider auch einfach viel mehr Arbeit,“ schmunzelt Ulbig. Kurzfristig bereute er seine Entscheidung, im Nachhinein hält er sie aber für gut: Als Professor für Elektrotechnik an der RWTH hat er schließlich nicht nur mit Planung, sondern auch mit Hardware und schweren Gerätschaften zu tun.

Schon früh im Studium fiel ihm auf, dass die Maschinen eigentlich nur einzelne Komponenten in einem viel größeren System sind. Von diesem Systemgedanken ist er bis heute fasziniert: „Wie schaffe ich es, hunderte von Windturbinen mit einem Netz, mit Transformatoren, mit Industriekunden und Städten als Stromverbraucher zu koordinieren und den Betrieb dieses Gesamtsystem zu optimieren?“ Die Planung solch komplexer Energieinfrastrukturen und deren flexibler Betrieb war dann auch Thema seiner Promotion an der ETH Zürich. Aus dieser Forschungsarbeit heraus gründete er das Startup Adaptricty.

Risiken für die Netzauslastung bewerten und erneuerbare Energien besser managen

Als Adaptricity für die Stadt Basel die Smart-Meter-Daten organisierte, spielte KI in Ulbigs Arbeit zum ersten Mal eine Rolle. Denn damals hielten die Forschenden den bis heute größten verfügbaren Smart-Meter-Datensatz im deutschsprachigen Raum in den Händen: 60.000 Smart-Meter-Installationen für knapp 200.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Zu den Auswertungen gab es 2016 einen öffentlichen Abschlussbericht - und ein Forschungspaper, das das Konzept (Proof-of-Concept) beschrieb.

Im Ergebnis ließ sich für die gesamte Stadt der Netzzustand berechnen. 2021 wurde daraus ein kommerziell verfügbares Produkt, das Adaptricity bis heute vor allem an Schweizer Netzbetreiber aber auch zunehmend für internationale Netzbetreiber, etwa in Hong Kong, vermarktet. Sie verwenden es für den täglichen Check, ob im Netz alles in Ordnung ist.

Ulbig: „95 Prozent des Netzes sind durchgehend grün, aber in 5 Prozent der Regionen gibt es immer mal wieder zu hohe oder zu niedrige Spannungsniveaus. Das fällt lange nicht auf. Wenn doch, dann ist es eigentlich zu spät.“ Eine kritische Netzüberlastung geschieht nämlich nicht von heute auf morgen, sondern baut sich über ein bis zwei Jahre langsam auf. Eine Netzverstärkung, inklusive der Planung und Durchführung von Tiefbauarbeiten, die das dann zu spät festgestellte Problem lösen soll, dauert ebenfalls ein bis zwei Jahre.

Mit der Software können Netzbetreiber nun mehr Risiken eingehen, da sie diese täglich berechnen können: „Sie können mehr E-Auto-Ladesäulen aufstellen und mehr Photovoltaik installieren lassen.“ Deshalb erhielt Adaptricity den Innovationspreis des Schweizer Bundesamts für Energie (BFE). Und Ulbig die Anfrage, ob eine Stelle am neuen Fraunhofer-Zentrum für Digitale Energie zusammen mit einem Lehrstuhl an der RWTH Aachen etwas für ihn wäre. Da er merkte, dass das Team bei Adaptricity inzwischen auch ohne ihn gut funktionierte, bewarb er sich mit gutem Gewissen – und erhielt die Zusage.

Freies Forschen zu Fragestellungen, nicht zu Lösungen

„Vor zehn Jahren dachte ich, wenn man ein, zwei sehr gute Paper schreibt, die von allen zitiert werden, sei das der Ausweis eines guten Wissenschaftlers“, erinnert sich Andreas Ulbig, der auch Forschungsaufenthalte unter anderem an der Supélec in Paris, am Caltech in Kalifornien sowie an der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris hinter sich hat.

„Mittlerweile denke ich, dass eine gute Vorlesung auch die clevereren Studierenden anlockt. Und von denen kommen schlaue Ideen für die Forschungsprojekte am Lehrstuhl.“ Also den wissenschaftlichen Nachwuchs einfach mal machen lassen? Das war die vielleicht größte Hürde in Ulbigs Berufsleben. Aber er hat gelernt, sich zu entspannen – zumindest in Maßen.

Als Chef achtet er jetzt darauf, „in keine Micromanagement-Falle zu laufen, sondern den Leuten Freiräume zu geben. Dazu gehört auch, tolerant zu sein, wenn die Ergebnisse leicht anders aussehen, als wenn man die Arbeit selbst gemacht hätte.“ Allzu detaillierte Vorgaben führten dazu, „dass die Leute einfach genau das und nichts weiter tun, dass sie nicht mitdenken.“ Freiräume hingegen ermöglichten auch positive Überraschungen durch neue Ideen. „Es geht darum, den Menschen zu vertrauen, dass sie clever genug sind, ihre Arbeit zu machen“, sagt Ulbig.

Familie und Arbeit unter einem Hut

Andreas Ulbig ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder – das prägt seine Arbeitsorganisation. In seinem Team achtet er auf eine gesunde Work-Life-Balance: „Wenn man Familie hat, wird der Tagesablauf durch so banale Dinge wie Kita-Öffnungszeiten strukturiert.“ Die Familie setzt Grenzen: „Man lernt mit den tagsüber verfügbaren acht Stunden effizienter umzugehen.“ Ab und zu beendet er auch ein Meeting früher, weil er seine Tochter in der Kita abholen muss. Und ist damit ein gutes Vorbild: „Einige Doktoranden und Doktorandinnen haben selbst Kinder. Wenn der Chef das macht, dann ist das auch für sie in Ordnung.“

Inzwischen beeindruckt es ihn nicht mehr, wenn ein Mitglied aus seinem Forschungsteam bis 22 Uhr im Büro sitzt. „Vor zehn Jahren wäre das vielleicht noch ein Leistungsausweis gewesen. Aber jetzt ist es eher so, dass ich genau nachfrage, was sie da eigentlich machen“, sagt Ulbig. Entweder die Arbeit ist zu viel oder sie müsste effizienter ablaufen. „Wenn die Leute sehr perfektionistisch sind, werden ihre Prozesse oft unnötig arbeitsintensiv. Das ist für niemanden gut und als Chef muss man hinterher sein, damit das nicht einreißt.“

Sein Vorbild ist sein Doktorvater Göran Andersson an der ETHZ: „In der Frage, wer eingestellt wurde, war er sehr restriktiv, aber dann hat er die Leute einfach machen lassen,“ erinnert sich Andreas Ulbig. Aus der Forschungsgruppe, an er selbst beteiligt war, gingen am Ende ein halbes Dutzend Professorinnen und Professoren hervor: „Man musste selbst proaktiv etwas machen und nicht darauf warten, dass der Chef sagt, was als nächstes zu tun ist.“ Andersson half, Forschungsfragen zu formulieren, ohne eine Lösung vorzugeben. „Im Nachhinein betrachtet war das eine sehr subtile Art, um den Leuten selbständiges Arbeiten beizubringen. Das hat mir aber immer sehr gut gefallen. Und genau das will ich meinen eigenen Leuten auch vermitteln.“

Autorin: Christiane Schulzki-Haddouti
Redigat und Lektorat: Susanne Wedlich