Philipp Berens

Professor für Data Science an der Universität Tübingen

KI mit Blick auf die ganze Welt

Ein digitaler Zwilling für das Auge: Daran arbeitet der Bioinformatiker Philipp Berens, der auch Sprecher des Exzellenzclusters Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft in Tübingen ist. Bei seiner Arbeit hat er bessere Entscheidungsunterstützungssysteme für Augenheilkunde im Blick.

Die Augen der Menschen sind eigentlich überall gleich, richtig? Falsch: Je nach Pigmentierung der Haut - heller oder dunkler - gibt es große Unterschiede. „Die meisten Menschen aus Afrika haben dunkler pigmentierte Augenhintergründe, die weniger durchscheinend sind als die der meisten Europäer. Auch die Adern zeichnen sich anders ab,“ erklärt Philipp Berens. Für die Forschung des Tübinger Bioinformatikers ist das entscheidend: „Wenn wir hier Algorithmen anwenden, die auf europäische Daten genormt sind, funktionieren sie nicht unbedingt.“

Es ist kein Geheimnis, dass KI-Spitzenforschung immer noch vor allem aus Europa, China und den USA kommt und auf entsprechenden Daten basiert. Welche Verwerfungen sich daraus ergeben können, wurde Berens auch erst nach einem Gespräch mit Augenheilkundlern in Kigali bewusst, der Hauptstadt Ruandas. Mittlerweile arbeitet er aktiv an KI-Algorithmen mit weniger Bias - und an der Ausbildung afrikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Seit 2023 ist Philipp Berens Direktor am Hertie Institute for AI in Brain Health in Tübingen. Die Einrichtung beschäftigt sich mit der Früherkennung und Prävention von Erkrankungen des Nervensystems mithilfe von Methoden der Künstlichen Intelligenz. Berens will nicht nur besser verstehen, wie Auge und Gehirn funktionieren. Er möchte auch mit detailgetreuen digitalen Zwillingen des menschlichen Auges dazu beizutragen, dass Krankheiten an diesem Organ früher erkannt, Therapien gezielter eingesetzt und neue Medikamente entwickelt werden können. Berens besteht darauf, dass alle wissenschaftlichen Arbeiten im Sinne von „Open Science“ veröffentlicht werden und damit frei zugänglich sind, selbst bei Kooperationen mit Unternehmen.

Für Berens‘ KI-Forschung hat eine Frage Priorität: Sind Ärztinnen und Ärzte besser, wenn sie von KI-unterstützt werden? Möglicherweise können sie dann Krankheiten früher oder genauer erkennen, arbeiten vielleicht auch einfach nur schneller und dadurch kostengünstiger. „Es gibt ja viele Anforderungen, die man hier an das Gesundheitssystem stellen kann“, sagt Berens.

Erste Erfolge gibt es etwa bei Brustkrebs-Erkrankungen. Studien zeigen, dass potenziell gefährliche Veränderungen bei Patientinnen, die Krebs anzeigen können, häufiger entdeckt werden, wenn KI als Zweitmeinung eingesetzt wird. Das erhofft sich Berens auch für die Augenheilkunde. Der Bedarf an besserer Früherkennung ist unstrittig. Ein Beispiel: Etwa ein Drittel der Diabetes-Erkrankten entwickelt eine diabetische Retinopathie, die zur Erblindung führen kann. Berens sagt: „Wir haben hier eine Versorgungslücke. Wenn Optiker, Hausärzte oder Diabetologen automatisierte Diagnosesysteme anbieten würden, könnten wir die Screening-Lücke schließen und früher behandeln.“

Von der Motivation zur Weichenstellung im Lebenslauf

Nach der Schule war Medizin für Philipp Berens eigentlich noch kein Thema. Nach dem Abitur studierte er in Tübingen Bioinformatik, weil er genauer wissen wollte, wie Neuronen Informationen verarbeiten. Ein wissenschaftlicher Schwerpunkt, der vor Ort das perfekte Umfeld fand. So perfekt, dass Berens noch heute in Tübingen lebt und arbeitet, was er nicht nur beruflich als „Riesenglück“ empfindet. Als Familienvater mit drei Kindern war und ist ihm wichtig, möglichst an einem Standort zu bleiben.

Die Neurowissenschaften gehören zu den Feldern, die sich als erstes mit maschinellem Lernen befasst haben. Tatsächlich waren die ersten Klassifikationsverfahren inspiriert von Modellen zur Nervensignalverarbeitung. „Das war das biologische System, das man sich zum Vorbild genommen hat, um bessere Algorithmen zu bauen“, sagt Berens. „Die Algorithmen hat man dann wiederum genutzt, um biologische Daten besser zu verstehen, bessere Modelle und Experimente machen zu können.“

Erfolg dank Austausch auf Augenhöhe

Während seiner Promotion an der Graduiertenschule für Neuro- und Verhaltenswissenschaften Tübingen von 2008 bis 2013 wurde er durch Doktorandenstipendien der Max-Planck-Gesellschaft und der Studienstiftung des Deutschen Volkes gefördert. Die Doktorarbeit mit dem Titel  Population coding of orientation in primary visual cortex – theory and experiment schloss er mit summa cum laude ab.

Neben der wissenschaftlichen Expertise nahm Berens noch eine wichtige Lektion mit: wie wichtig gute Kolleginnen und Kollegen und ein Netzwerk über alle Hierarchiestufen hinweg sind. So arbeitete er während seiner Promotion eng mit seinen Doktorvätern zusammen, die er bis heute als Mentoren sieht: Matthias Bethge an der Universität Tübingen und Andreas Tolias, mit dem ihn noch immer eine professionelle Long-Distance-Beziehung verbindet. Tolias lehrt am Baylor College of Medicine in Houston/USA. Dort führte Berens einige Experimente zu seiner Arbeit durch.

Beide hätten ihn immer wieder für die Forschung begeistert und auch in seiner Herangehensweise an Probleme stark beeinflusst, sagt Berens. Aber auch mit den seinen direkten Kollegen in verschiedenen Tübinger Arbeitsgruppen konnte er viele gute und bis heute tragfähige Kontakte knüpfen: „Ich hatte immer wieder das Glück, mit wirklich tollen Leuten zusammenzuarbeiten, die einen ähnlichen Karriereweg gegangen sind.“

Augenklinik als wissenschaftlicher Wendepunkt

Klinische Fragestellungen interessierten den promovierten Bioinformatiker zunächst nicht. Doch dank einer BMBF-Förderung bekam er 2015 eine eigene Arbeitsgruppe, deren wissenschaftliche Ausrichtung den Schwenk in Richtung Medizin brachte, genauer: Augenheilkunde: „Mein Interesse am Auge rührt daher, dass die Nervenstrukturen des Auges eine Art Ausstülpung unseres Gehirns sind. Fragen wie ‚Wie kommt die Welt in den Kopf?‘ haben mich schon in der Schule begeistert.“

Er beschloss, Methoden des maschinellen Lernens einzusetzen, um die Zelltypen in der Netzhaut besser zu verstehen. „Das war noch sehr, sehr abstrakt gedacht. Aber mein Institutsleiter sah das Potenzial, diesen Ansatz für klinische und transnationale Fragestellungen zu nutzen.“ Über ihn kam Berens ans Forschungsinstitut für Augenheilkunde, wo er seine Ideen mit Medizinerinnen und Medizinern diskutieren und sogar in einer Sprechstunde der Augenklinik hospitieren konnte.

„Da habe ich direkt gesehen, was relevant ist“, erinnert sich Philipp Berens. „Außerdem wollte ich nicht nur das fortsetzen, was ich in den letzten zehn Jahren schon gemacht hatte. Ich wollte die Chance nutzen, mehr in Richtung Medizin zu gehen. Anders gesagt: Es war mir wichtig, Menschen konkret helfen zu können.“

Nachdem die Entscheidung getroffen war, ging alles sehr schnell: 2017 folgte die Habilitation. Dank einer Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft konnte für Philipp Berens eine Heisenberg-Professur eingerichtet werden. 2018 wurde er gemeinsam mit der Informatikerin UIrike von Luxburg Sprecher des Exzellenzclusters Maschinelles Lernen: Neue Perspektiven für die Wissenschaft in Tübingen. „Das waren zwei einzelne Schritte, die aber fast zeitgleich erfolgten – und zusammen für mich einen großen Sprung nach vorn bedeuteten.“

Exzellenz für Capacity Building

Noch ein Umdenken war für Berens‘ weitere Forschung in Bezug auf die einseitige und westlich geprägte Wissenschaft nötig. Eine große Herausforderung sei, dass „die meisten Datensätze aus Europa, den USA, aus Indien und China kommen – aber nicht aus Afrika“, sagt Berens. Deshalb arbeitet er im Exzellenzcluster mit seiner Forschungsgruppe eng mit dem African Institute for Mathematical Sciences (AIMS) zusammen. Dieses Netzwerk betreibt Zentren mit unterschiedlichen Lehr- und Forschungsschwerpunkten in Ghana, Kamerun, Ruanda, Senegal und Südafrika.

Mit dem Exzellenzcluster betreibt er hier bewusst Capacity Building: Junge Menschen vom afrikanischen Kontinent sollen sich über ein Forschungspraktikum so qualifizieren, dass die Wissenschaft vor Ort auf dem weltweit aktuellen Stand betrieben werden kann und an die internationale Wissenschaft anschlussfähig ist. In seiner Abteilung beschäftigt Berens Forschende aus Ghana, Kamerun und Nigeria, allesamt Alumni des AIMS. Sie sollen ihrerseits den Staffelstab weiterreichen – wie vor ihnen schon einige AIMS-Lehrkräfte: „Das sind Leute, die nach Aufenthalten in Europa zurückgegangen sind, um die nächste Generation auszubilden.“, erklärt Berens.

Eine Agenda, die nach Berens Eindruck die meisten afrikanischen Forschenden im Bereich maschinelles Lernen umtreibt, ist der globale Zugang zu Rechenressourcen. Und das Hinterfragen der Datenbasis nach einem ethnischen Bias. Wird etwa auf der Grundlage von europäischen Normwerten auf Grünen Star getestet, kann das bei der Hälfte der afrikanischen Patientinnen und Patienten zu einer falsch positiven Diagnose führen.

Berens will daher mit Forschenden aus Gambia in den nächsten Jahren lokal Daten erheben, die Generalisierung der Augenmodelle prüfen und anpassen. Dabei sei das KI-Modell nicht schuld an der Schieflage, wie er betont, sondern decke das Ungleichgewicht nur auf: „Erst indem man algorithmisiert, kommt der bestehende Bias in den Daten überhaupt erst auf den Tisch“, sagt Berens. Genau dies sei auch einer der Vorteile von KI: dass man sich der Schieflagen bewusst mache, die schon immer und auch heute noch in den Datensätzen schlummern.

Autorin: Christiane Schulzki-Haddouti
Redigat und Lektorat: Susanne Wedlich