Interview

Ribana Roscher:

Von der kleinen

zur großen Skala

Zur Person

Ribana Roscher ist seit 2015 Juniorprofessorin und leitet die Arbeitsgruppe Fernerkundung am Institut für Geodäsie und Geoinformation der Universität Bonn. Dort promovierte sie 2012 im Fach Geodäsie zu inkrementellen maschinellen Lernverfahren, die kontinuierlich weiterlernen und ihr Wissen an aktuelle Gegebenheiten der Umwelt anpassen. Sie arbeitet an der Schnittstelle von maschinellem Lernen und Disziplinen wie den Nutzpflanzenwissenschaften. Zudem engagiert sie sich für die Förderung interdisziplinärer Forschung, etwa als Mitglied im Lenkungsausschuss des transdisziplinären Forschungsbereichs „Innovation and Technology for Sustainable Futures“ der Universität Bonn.

Essential

Biodiversität lasse sich KI-gestützt nicht allein dadurch erfassen, bestimmte Pflanzen und Insekten zu zählen, sagt Ribana Roscher. Im Moment gebe es für die Analyse großflächiger Daten noch nicht genügend geeignete Methoden, auch sei teilweise noch nicht bekannt, welche Art von Daten und Informationen erfasst werden müssen, um etwa Aussagen zur Biodiversität zu erlauben.

Die Hauptherausforderung bestehe darin, die Anforderungen der jeweiligen Anwender zu verstehen und in messbare Ereignisse zu übersetzen. Im Exzellenzcluster PhenoRob werden derzeit für eine nachhaltige Landwirtschaft in einem inter- und transdisziplinären Ansatz neue Verfahren und Managementstrategien für die Datenerfassung und -auswertung entwickelt. Erst nach zwei Jahren Projektzeit konnten die Grundlagen für eine interdisziplinäre Verständigung gelegt werden, die einen effizienten und zielführenden Versuchsaufbau und -ablauf ermöglichen. Im Rahmen des Projekts werden auch sozioökonomische Einflüsse berücksichtigt, um die Anwendung unter Berücksichtigung lokaler Randbedingungen großflächig skalieren zu können.

 

Für die Multiziel-Optimierung müssen viele Datenarten, aber auch verschiedene Modellierungsansätze betrachtet werden. Doch noch sei es unklar, ob und wie diese zusammengebracht werden können, sagt Roscher. Mit wissensbasierten Modellen, die bestehendes Domänenwissen formalisieren, müsse meist ein Kompromiss zwischen Detailgrad und der Skala eingegangen werden, wobei eine datengetriebene Modellierung mit KI-gestützten Methoden vor allem auf großer räumlicher Skala schwer zu verallgemeinern sei und bei der Sicherstellung der wissenschaftlichen Konsistenz und Plausibilität an Grenzen stoße. Deshalb seien Aussagen zur Datenunsicherheit und Modellunsicherheit wichtig, um Unsicherheiten in den Ergebnissen besser einordnen zu können.

Ribana Roscher betont, dass Künstliche Intelligenz als Wegbereiter für Lösungen im Umwelt- und Klimaschutz begriffe und nicht entkoppelt von der Anwendung betrachtet werden sollte. Hierfür müssen bestehende KIAnsätze so adaptiert werden, dass sie entscheidungsrelevante Ergebnisse liefern können. Dafür sei eine interdisziplinäre und vor allem transdisziplinäre Forschung wichtig, aber noch nicht Standard, sagt Roscher. Eine stärkere Förderung transdisziplinärer Forschung sei wichtig, was bisher durch die fachspezifischen Silostrukturen der europäischen und nationalen Forschungsförderung erschwert werde.

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Interview

Von der kleinen zur großen Skala

  • Genügt es, Pflanzen und Insekten zu zählen, um Biodiversität KI-gestützt zu erfassen?
  • Ribana Roscher: Wir befassen uns momentan im Bereich der nachhaltigen Landwirtschaft mit der Schwierigkeit, wie wir Biodiversität erfassen können. Wir können beispielsweise mit automatischen Verfahren Pflanzen zählen, die Art bestimmen und im besten Fall erkennen, wie groß die Pflanzen sind. Aber es ist noch eine große Frage, wie wir das, was KI-gestützte Programme uns liefern, in Parameter umsetzen können, die verwertbare Aussagen zur Biodiversität erlauben, die dann als Grundlage für Entscheidungen dienen können. Wir wissen teilweise noch gar nicht, was wir überhaupt alles erfassen müssen, um Informationen wie die globale Pflanzengesundheit detailliert zu bestimmen. Im Moment gibt es noch keine effizienten Methoden zur großflächigen Erfassung, die auch viele Details auf kleiner Skala liefern.
  • Wie nähern Sie sich dieser Frage an?
  • Ribana Roscher: An der Universität Bonn gibt es mit PhenoRob1 den einzigen Exzellenzcluster im Bereich der Landwirtschaft in Deutschland. Dort sehe ich die Top-Herausforderung darin, ganz genau auf die Anwender zu hören, um verstehen zu können, was gebraucht wird. Wir müssen die Sprache des Anwenders übersetzen in das, was wir überhaupt messen können und aus den Messungen bestimmen können. Das ist ein Lernprozess für alle. Um nachhaltig auf dem Feld agieren zu können, entwickeln wir in einem inter- und transdisziplinären Ansatz neue Verfahren und Managementstrategien für die Datenerfassung und -auswertung.
  • Was könnte ein Ergebnis dieses Projekts sein?
  • Ribana Roscher In PhenoRob zielen wir auf verschiedenartige Ergebnisse ab, ein gutes Beispiel ist aber folgendes: Momentan werden Felder oftmals rechteckig designt, was einerseits durch die Erntemaschinen bedingt ist, aber auch, weil Alternativen bisher schwer zu motivieren waren. Darüber hinaus werden momentan größtenteils Einzelkulturen angebaut. Wir zielen nun auf Erkenntnisse ab, wie sich kompatible Sorten zusammen anbauen lassen, um einerseits den Ertrag zu steigern, aber auch die positiven Effekte der Biodiversität auszunutzen, um Ressourcen wie Pestizide einzusparen. Darüber hinaus wollen wir Alternativen zu rechteckigen Anbauflächen vorschlagen, um etwa die Lage und Bodenqualität besser zu berücksichtigen.
  • An welchem Punkt stehen Sie mit dem Projekt jetzt?
  • Ribana Roscher: Im Moment geht es um die Frage, wie wir die Sensordaten von Kameras, Drohnen oder Satelliten mit KI-gestützten Methoden in entscheidungsrelevante Informationen umwandeln können. Hinsichtlich der Biodiversität stehen wir gerade an dem Punkt, dass wir quantifizieren wollen, wie Pflanzen sich in Mischkulturen positiv oder negativ aufeinander auswirken. Dazu fragen wir uns: Reicht es, wenn wir auf kleiner Skala die Biomasse bestimmen oder Insekten zählen, oder müssen wir auch Messungen auf großer Skala, zum Beispiel zum Wetter, berücksichtigen? Wie können wir das quantifizieren, um später Landwirten eine Empfehlung darüber abgeben zu können, welche Pflanzen sie in welchem Maße anbauen sollen?
  • Wie aufwendig ist das?
  • Ribana Roscher: Meiner Erfahrung nach braucht man mehrere Jahre, um eine gemeinsame Sprache zwischen den Disziplinen zu finden. PhenoRob läuft seit ungefähr zwei Jahren. Wir sind also gerade an dem Punkt, an dem Fragestellungen der Pflanzenwissenschaftler und der Landwirte mit neuen Technologien angegangen und in KI-gestützte Programme umgewandelt werden können.
  • 1) Exzellenzcluster PhenoRob – Robotics and Phenotyping for Sustainable Crop Production, http://www.phenorob.de
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  • Warum braucht das so lange?
  • Ribana Roscher: Die Versuche in PhenoRob werden am Anfang aus Sicht der Pflanzenwissenschaftler und des Landwirts geplant, um deren Fragestellungen beantworten zu können, beispielsweise, inwieweit sich zwei Pflanzen positiv beeinflussen, wenn sie zusammen oder im Wechsel angebaut werden. Mit KI-gestützten Programmen und Technologien wie Robotern helfen wir bei der Beantwortung dieser Fragen. Wir können jedoch erst nach einer kompletten Saison feststellen, ob wir die Fragestellung im geforderten Maß beantworten können.

Eine Herausforderung ist vor allem, dass wir oftmals nur Proxies bestimmen können, also erfassbare Größen wie die Anzahl der Pflanzen, statt direkt gewünschte Parameter wie die Biodiversität. Daher passiert es oft, dass wir das Design des Experiments anpassen müssen, weil beispielsweise die Drohne zu hoch geflogen ist, um einzelne Pflanzen zählen zu können. Eine weitere Herausforderung ist, dass wir uns nur schrittweise an die Beantwortung der Frage über die Skala und den Umfang der Messungen herantasten können. Eine Beobachtung und Messung aller potenziell wichtigen Phänomene und Prozesse auf allen Skalen von der Einzelpflanze bis zum kompletten Feld und dessen Umgebung ist zu aufwendig. Ein optimaler Messablauf kann daher nur nach und nach konkretisiert werden. Dieser Prozess nimmt Zeit in Anspruch, vor allem bedingt durch den saisonalen Zyklus der Pflanzen.

  • Welches Zwischenfazit würden Sie aus dieser Erfahrung ziehen?
  • Ribana Roscher: KI spielt eine große Rolle für die nachhaltige Landwirtschaft, aber wir brauchen das Domänenwissen der Experten, weil wir unsere Methoden und die Sensoren daraufhin adaptieren müssen. Wir müssen schrittweise die wesentlichen Proxies ermitteln, die uns diejenigen Parameter liefern, die gebraucht werden. Das braucht Feedback, das in der Landwirtschaft eben einige Jahre benötigt. Denn wenn die Saison vorbei ist, ist sie vorbei. Noch schwieriger ist es natürlich bei selten auftretenden oder nicht planbaren Ereignissen wie Waldbränden oder Hurricanes. In vielen Bereichen des Klimaschutzes, der Umweltwissenschaften, des Katastrophenmanagements, der Sicherheits- und Warnsysteme, in denen sehr komplexe Prozesse und Phänomene involviert sind, sind wir daher noch weit davon entfernt, skalenübergreifend akkurate Aussagen und Vorhersagen treffen zu können.
  • Welche Rolle spielen heute KI-unterstützte Sicherheits- und Warnsysteme für Zwecke des Klimaschutzes, der Klimaadaption oder zum Erhalt der Biodiversität?
  • Ribana Roscher: An sich können wir ohne KI schon viel auf kleiner Skala machen. KI kommt immer dann ins Spiel, wenn wir für große Skalen automatisieren wollen. Wenn wir zum Beispiel globale Statistiken darüber erstellen wollen, wie viel Wald auf der Erde existiert, wie viel Wald abgeholzt wurde oder auch wie sich das Wetter entwickelt. Oder wenn Warnsysteme anzeigen sollen, in welche Richtung ein Hurricane sich bewegt und wann er das Land erreicht. Es gibt zwar viele generelle KI-Ansätze wie die Objektdetektion in Bildern, das Auffinden von regelmäßigen Mustern in großen Datenmengen, die Detektion von Unregelmäßigkeiten oder die Vorhersage von bekannten Phänomenen, aber diese müssen noch so adaptiert werden, dass sie für solche Sicherheits- oder Warnsysteme die Ergebnisse liefern, die wir für Entscheidungen brauchen.

Interdisziplinäre Multiziel-Optimierung

  • Die meisten KI-Projekte in der Landwirtschaft zielen auf Ertragsoptimierung. Wie lassen sich Nachhaltigkeitsaspekte besser berücksichtigen?
  • Ribana Roscher: Als Wissenschaftler sollten wir nicht nur die Genauigkeit wie die Erkennungsrate optimieren oder in der Landwirtschaft auf einen hohen Ertrag abzielen, sondern auch andere Zielgrößen in die KI-Modelle einbeziehen. In PhenoRob schauen wir daher auch, ob die Ergebnisse überhaupt aus physikalischer und biologischer Sicht plausibel und konsistent sind. Bei der Vorhersage der Entwicklung von Pflanzen etwa über die Zeit wird überprüft, ob die KI-gestützten Methoden aus biophysikalischer Sicht ein Ergebnis liefern, was in der Realität auch vorkommen kann. Beispielsweise wollen wir die Güte neuer Managementstrategien nicht nur anhand des höchsten Ertrags beurteilen, sondern auch beachten, dass Biodiversität erhalten bleibt. Eine Forschungsfrage ist, wie dies quantifiziert werden kann. Ein sehr gutes Beispiel ist der Weinbau, bei dem es seit jeher nicht allein um hohen Ertrag, sondern auch um die Qualität der Trauben geht.
  • Wie skalierbar sind die Ergebnisse von PhenoRob? Werden Sie auch sozioökonomische Daten einbeziehen?
  • Ribana Roscher: Eines der sechs Teilprojekte von PhenoRob befasst sich mit den sozioökonomischen Effekten, insbesondere den Auswirkungen neuer Technologien auf einer Skala, die weit über ein einzelnes Feld hinausgeht. Diese ganzheitliche Betrachtungsweise ist neu, also dass nicht nur neue Technologien entwickelt werden, sondern auch eine mögliche Verbreitung und der potenzielle Einfluss unter Berücksichtigung von aktuellen Gegebenheiten modelliert werden. Die Frage ist beispielweise, welchen sozioökonomischen Einfluss neue nachhaltige Technologien in der Landwirtschaft in Deutschland haben und welche lokalen Randbedingungen berücksichtigt werden müssen. Wir betrachten hierfür einzelne landwirtschaftliche Betriebe, aber auch großflächige Zusammenhänge in der Umgebung, um herauszufinden, ob der Technologieeinsatz etwas bewirkt und ob er angenommen wird.
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  • Wie herausfordernd ist eine solche interdisziplinäre Multiziel-Optimierung?
  • Ribana Roscher: Noch werden mit KI-gestützten Verfahren viele Aufgaben isoliert betrachtet, wie etwa die Bestimmung des optimalen Erntezeitpunkts und Empfehlungen über den Anbau von Mischkulturen – selbst dann, wenn es Zusammenhänge zwischen diesen Aufgaben gibt, die man nutzen könnte. Das liegt meiner Meinung daran, dass es aus methodischer Sicht einfacher ist, speziellere Aufgaben zu lösen. Die Komplexität steigt dann, wenn über mehrere Skalen Informationen einbezogen werden sollen, mehrere Datenarten wie beispielsweise Audio und Bilder zusammengebracht werden sollen oder verschiedene Modellierungsansätze zusammen verwendet werden.

Von der kleinen zur großen Skala

  • Wie können wissensbasierte und KI-gestützte Modelle zusammengebracht werden?
  • Ribana Roscher: Wissensbasierte Modelle werden in vielen Bereichen wie der Ökonomie angewendet. Sie formalisieren Domänenwissen der Experten, um damit Schätzungen und Vorhersagen tätigen zu können. Das funktioniert für diejenigen Bereiche sehr gut, in denen Prozesse relativ simpel sind und die von uns schon sehr gut verstanden sind. Dies kann sich über die Skalen stark unterscheiden, je nachdem, wie komplex gewisse Prozesse und Phänomene sind und was die Ziele sind.
  • Und wie ist es, wenn Modelle auf kleiner Skala auf eine große Skala übertragen werden?
  • Ribana Roscher: Das Wachstum einer einzelnen Pflanze beispielsweise ist schon recht gut verstanden, wird jedoch sehr viel komplexer, wenn externe Einflüsse auf großer Skala mit einbezogen werden sollen. Hier helfen KI-gestützte Methoden, da sie Zusammenhänge zwischen Pflanze und Umwelt aus Daten lernen können, die für uns zu schwer zu formalisieren sind – allerdings mit der Gefahr, dass bestehendes Wissen ignoriert wird. Aber daran arbeiten wir, also wie wissensbasierte Modelle und KI-gestützte Verfahren für akkurate und biophysikalisch plausible Schätzungen auf allen Skalen zusammengebracht werden können. Dies geschieht etwa im Bereich des sogenannten theory-guided machine learning oder informed machine learning, wo KI-getriebene Modelle und wissensbasierte Modelle zusammengeführt werden.
  • Wie komplex ist es, unterschiedliche Skalen in einem Modell zusammenzubringen?
  • Ribana Roscher: Die Generalisierung ist eine große Herausforderung: Modelle, die lokal gut die Phänomene und Prozesse abbilden, müssen nicht zwangsläufig auch auf großer Skala oder in anderen lokal beschränkten Gebieten gut funktionieren. Ein aktueller Forschungsgegenstand ist hier, welche Beobachtungen und Zusammenhänge über große Gebiete hinweg wichtig sind und gelten und in welchem Ausmaß die Modelle adaptiert werden müssen.
  • Wo ist hier die größte Hürde?
  • Ribana Roscher: Ich denke, hier liegt die Hürde momentan nicht bei den fehlenden methodischen Grundlagen, sondern bei den Daten. Einerseits haben wir sehr viele Daten, auch skalen-übergreifend vom Bodenroboter bis zum Satelliten, allerdings nützen uns diese Daten wenig, wenn sie nicht in nützliche Information umgewandelt werden können. Was wir dazu brauchen, sind Referenzdaten wie manuelle Feldmessungen oder gesellschaftliche Umfragen, damit wir ermitteln können, wie zum Beispiel eine bestimmte Pflanze aussieht, wenn sie besonders guten Ertrag bringt, oder welche sozio-ökonomischen Gegebenheiten und welche Technologie dazu führten, dass eine Trockenzeit nur wenig negativen Einfluss auf den Ertrag hatte. Erst wenn wir das wissen, können wir auf lokale Unterschiede schauen und die Modelle auf größere Skalen bringen.

Mit Unsicherheiten umgehen

  • In der Landwirtschaft entwickeln Sie Modelle für lebende Systeme. Wie gehen Sie mit den damit verbundenen Unsicherheiten um?
  • Ribana Roscher: Man ist mit KI-gestützten Verfahren bereits gut in der Lage, verschiedene Unsicherheiten zu berücksichtigen und zu schätzen. Dabei betrachtet man vor allem Datenunsicherheit, die die Unsicherheit der Beobachtungen angibt, und Modellunsicherheit, die die Unsicherheit der Schätzung durch das Modell angibt. Um zum Beispiel eine Aussage treffen zu können, ob eine Pflanze anormal wächst, muss man wissen, ob es sich um eine Unsicherheit handelt, die auf ungenauen Daten basiert, oder es sich tatsächlich um den gesuchten Unterschied zur Normalität handelt. Hier wäre es wichtig, dass wir nicht nur das Ergebnis der Schätzung und der Vorhersage nach außen kommunizieren und an Entscheidungsträger weitergeben, sondern auch die Unsicherheit. Allerdings werden fundierte Unsicherheiten bei den wenigsten naturwissenschaftlichen Arbeiten mit KI-gestützte Verfahren betrachtet.
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  • Wie wichtig ist es, die Unsicherheit gut einschätzen zu können?
  • Ribana Roscher: Wenn ich zum Beispiel weiß, dass ein Ergebnis sehr unsicher ist, dann bin ich bei bestimmten Entscheidungen vermutlich zurückhaltender. Bisher wurden solche Aussagen, ab wann ein Ergebnis zu unsicher ist oder ob es vertrauenswürdig ist, größtenteils nach Empfinden oder grober Einschätzung gewählt, was vor allem bei KI-gestützten Verfahren für naturwissenschaftliche Anwendungen zu falschen Schlussfolgerungen führen kann. Wenn wir jedoch bestehende methodische Entwicklungen wie die Unsicherheitsschätzung aus dem KI-Bereich für wissenschaftliche Anwendungen annehmen, dann würden wir einen großen Schritt in Richtung Objektivität gehen und die Verlässlichkeit und das Vertrauen in die erzielten Ergebnisse erhöhen.

Transdisziplinäre Forschung

  • Mehr inter- und transdisziplinäre Forschung scheint nötig zu sein, um Smart-Sensing-Projekte in der Realwirtschaft nachhaltig einsetzen zu können. Wo stehen wir hier aus Ihrer Sicht?
  • Ribana Roscher: Ich bin davon überzeugt, dass wir in die Richtung transdisziplinäre, interdisziplinäre und auch multidisziplinäre Forschung gehen müssen, aber sie ist noch kein Standard. Zum einen gibt es oftmals falsche Vorstellungen und Erwartungshaltungen an die KI, die derartige Forschung bremst: Man erwartet, dass KI alles lösen kann, und sobald KI-Lösungen umgesetzt werden, ist man enttäuscht, weil die Erwartungen nicht erfüllt wurden. Oder man weiß überhaupt nicht, was KI alles schon kann, weil sie noch nicht im großen Stil auf gesellschaftsrelevante Themen angewandt wird.
  • Wie gehen Sie damit um?
  • Ribana Roscher: Ich denke, wir müssen öffentlichkeitswirksam kommunizieren und die Erwartungshaltung kalibrieren, auch damit Vorbehalte in der Öffentlichkeit abgebaut werden. Andererseits müssen aber auch mehr Unterstützung und Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Dabei geht es darum, dass KI von den Anwendungen nicht mehr entkoppelt wird, sondern als Wegbereiterin für die Lösungen im Bereich Umwelt und Klimaschutz gesehen wird.
  • Im internationalen Raum gibt es multidisziplinäre Leuchtturm-Projekte wie etwa das der Cornell University zur strategischen Dammplanung im Amazonasbecken2. Wie könnten die Startbedingungen für solche Projekte verbessert werden?
  • Ribana Roscher: Das ist ein großartiges Projekt. Ich glaube, wenn ein Projekt so groß ist, dann ist eine Finanzierung über Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster möglich, da diese vergleichsweise stark interdisziplinär aufgestellt sind. Das Problem liegt meiner Meinung nach bei kleineren Projekten. Der schlimmste Fall ist, wenn man als Einzelperson so interdisziplinär aufgestellt ist wie ich. Das mag nicht dramatisch klingen, aber in Summe ist es das und bewirkt, dass wir immer spezieller in unseren Forschungsrichtungen werden anstatt interdisziplinärer.

Ein Problem auf nationaler wie auch auf europäischer Ebene ist die Silostruktur des wissenschaftlichen Fördersystems: Wenn man Förderanträge einreicht, muss man in der Regel ein Panel angeben, also eine Community, welches den Antrag begutachtet. Informatik, Umweltwissenschaften oder Biologie sind aber in verschiedenen Panels beheimatet und interdisziplinäre Panels sind eher die Ausnahme. Daher ist es wahrscheinlich, dass zum Beispiel das Informatik-Panel eine Anwendung für irrelevant hält, wenn sie primär ein umweltwissenschaftliches Thema adressiert. Umgekehrt könnte ein umweltwissenschaftliches Panel die Bedeutung nicht erkennen, dass man für ein bestimmtes Problem ein KI-Modell entwickeln muss. Dieses Problem muss von mehreren Seiten aus angegangen werden.

  • Wo könnte man da ansetzen?
  • Ribana Roscher: Es gibt zwar Ausschreibungen, die explizit interdisziplinäre Forschung adressieren, jedoch haben diese teilweise eine unglaublich hohe Einreichquote. Auch wenn hier sicherlich viele gute Projekte nicht zum Zuge kommen, hoffe ich, dass das als Zeichen wahrgenommen wird. Außerdem werden mit Forschungsrichtungen wie computational sustainability Professuren genau an der Schnittstelle geschaffen. Die Universität Bonn etwa kümmert sich gerade um die Schaffung solcher transdisziplinären Professuren, die übergreifend über verschiedene Fakultäten agieren sollen. In diese Richtung muss aus meiner Sicht mehr geschehen.
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Projekt

KI-gestützte Staudamm-Planung im Amazonasbecken

Im Amazonasbecken ist derzeit der Bau von 351 neuen Wasserkraftwerken im Gespräch, bisher gibt es 158 Wasserkraftwerke. Wasserkraft-Staudämme liefern große Energiemengen und haben einen ähnlich niedrigen CO2-Fußabdruck wie Solar- und Windkraftanlagen. Abhängig von Standort und Bauweise verursachen manche Staudämme allerdings sehr hohe Mengen an Treibhausgasen.

Ein aus Ökologen und Informatikern bestehendes interdisziplinäres Team unter der Leitung der Cornell University hat ein KI-gestütztes Computermodell entwickelt, das die klimafreundlichste Verteilung von Staudammstandorten ermitteln soll. Das Amazonasbecken umfasst Landesteile von Brasilien, Ecuador, Peru und Bolivien. Die Wissenschaftler wollen südamerikanische Regierungen und Organisationen dabei unterstützen, informierte Entscheidungen zu treffen. In ihrer in Nature Communications veröffentlichten Studie „Reducing Greenhouse Gas Emissions of Amazon Hydropower with Strategic Dam Planning“ kommen die Forscher zu dem Schluss, dass das gesamte Amazonasbecken bereits während der Planungsphase berücksichtigt werden muss, um eine möglichst CO2-arme Wasserkraft zu erreichen. Würde der Dammbau jedoch wie bisher schrittweise, ohne strategische Planung entwickelt werden, sei eine optimale Lösung kaum zu erreichen, die mit nachhaltigen Energiezielen in Einklang stehen würde.

Mithilfe des Computermodells konnte ermittelt werden, mit welcher Kombination von Dämmen die geringsten Treibhausgas-Mengen verursacht werden würden. Die Forscher berücksichtigten bei ihrer Analyse die Verbleibzeit von Methan in der Atmosphäre sowohl in 20- als auch 100-Jahres-Zeiträumen. Werden Staudämme in steileren Umgebungen gebaut, muss pro Leistungseinheit weniger Land als beim Bau von Talsperren im Flachland geflutet werden. Nach der Überflutung von Gebieten produzieren sich zersetzende Pflanzenmassen das Treibhausgas Methan. In steileren Umgebungen sind geringere Treibhausgasemissionen zu erwarten.

Alex Flecker, Professor für Ökologie und Evolutionsbiologie an der Cornell University, betont, dass es darum gehe, „Möglichkeiten zu entwickeln, darüber nachzudenken, ob manche Projekte mehr oder weniger Auswirkungen haben könnten als andere“. Beispielsweise könnte ein bestimmter Damm Verbindungen im Flussnetzwerk unterbrechen und Fischwanderungen blockieren. Für gesellschaftlich akzeptable Lösungen wären Kompromisse zwischen der Erzeugung von Wasserkraft und den Umweltauswirkungen gesucht.

Das Forschungsteam will außerdem untersuchen, wie sich die Dämme auf das gesamte Ökosystem auswirken werden. Hierfür müssen Multiziel-Optimierungen für mehrere Kriterien vorgenommen werden. „Während etwas aus energetischer Sicht gut sein kann, könnte es enorme Konsequenzen für andere Umweltziele haben“, sagt Carla Gomes, Professorin für Informatik und Direktorin des Institute for Computational Sustainability der Cornell University. Gomes: „Hier kommen wir ins Spiel: Wir führen umfangreiche Berechnungen durch, die das Problem von einem Standpunkt mit mehreren Zielen aus betrachten.“

Hintergrund

Nachhaltige Daten-Infrastrukturen

Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) empfiehlt, beim Auf- und Ausbau öffentlich-rechtlicher digitaler Infrastrukturen deren Gemeinwohlorientierung ins Zentrum zu stellen, damit öffentliche Gelder vor allem auch öffentliche Güter schaffen. Digitale Gemeingüter seien organisatorisch, technisch und rechtlich abzusichern, etwa mit Blick auf die Rechtssicherheit bei der Lizenzierung oder den dauerhaften Erhalt des Wissens. Aus Sicht des WBGU ist es zentral, einen inklusiven und chancengerechten Zugang zu digitalen Gemeingütern durch offene, barrierefreie Formate und eine verbesserte Auffindbarkeit und Abrufbarkeit etwa mittels internationaler Metadatenstandards sicherzustellen. Auch soll eine breite Mitwirkung an der Erstellung und Weiterentwicklung der digitalen Gemeingüter durch Leuchtturmprojekte gefördert werden.

Ein nachhaltiger Umgang mit Daten steht beispielsweise im Mittelpunkt des Leuchtturmprojekts „KI-Strategie für Erdsystemdaten“ (KISTE), das hierüber eine interdisziplinäre Brücke zwischen der KI-Forschung und den Umwelt- und Erdsystemwissenschaften schlagen soll.1 Im Rahmen des Projekts werden mittels KI-Verfahren Umweltdaten analysiert, aufbereitet und bereitgestellt. Hierzu werden eine Analyseplattform für Datensets und KI-basierte Analysewerkzeuge sowie eine open edX-basierte KI-Lernplattform aufgebaut, die auf Erprobungen und Anwendungen dieser Datensets und Werkzeuge verweist. Im Rahmen von fünf Dissertationen werden in den Themenfeldern Wolken, Schnee/Eis, Wasser, Luftqualität und Vegetation KI-Methoden zur Vorhersage von Umweltparametern weiterentwickelt. Beispielsweise ließe sich mit einer KI-basierten Vorhersage von Veränderungen räumlich-zeitlicher Wolkenparameter die Verfügbarkeit von Solarenergie besser planen. Ein Landwirt könnte auf Basis einer Abschätzung der Bodenqualität seiner landwirtschaftlichen Flächen den Einsatz von Dünger verringern und die Aussaat verschiedener Sorten besser planen. In den letzten zehn Jahren werden in der Fernerkundung verstärkt Daten zu KI-Modellen öffentlich zur Verfügung gestellt. Bestärkt wird die Entwicklung dadurch, dass Wissenschaftler privat betriebene Rechner-Cluster wie Amazon Web Services oder Google Colaboratory nutzen, die bessere Berechnungsmöglichkeiten als die hochschuleigenen Rechenzentren bieten. Dadurch wurde die Nutzung von KI-Methoden deutlich einfacher gemacht. Überdies wird der Reputationsaufbau im Wissenschaftsbetrieb dadurch begünstigt, wenn Software und verwendete Software-Werkzeuge veröffentlicht werden, da jeder wissenschaftliche Nutzer dieser Daten und Werkzeuge in seinen Arbeiten auf diese verweisen muss. Etliche Förderprogramme und -instrumente verlangen überdies, dass Forschungsergebnisse in Open-Access- Publikationen veröffentlicht werden.2

Der Aufbau nachhaltiger Daten-Infrastrukturen zählt außerdem zu den Anforderungen zahlreicher großer Förderprojekte: Antragsteller müssen etwa darlegen, wie die Daten gespeichert werden und wie die Schnittstellen zwischen den Disziplinen hergestellt werden. Auch werden Speicherung und Umgang mit unterschiedlichen Datenstandards geregelt, damit auch andere Disziplinen die Daten verwenden können. Im Exzellenzcluster Phenorob wird beispielsweise eine Datenbank mit einer Benutzeroberfläche aufgebaut, über die jeder beteiligte Wissenschaftler seine Daten verpflichtend mit Metadaten zu Datum und Zweck eintragen muss. Regelungen zu einer nachhaltigen Pflege von KI-Modellen sind bislang nicht bekannt.

  • 1) Zu den Projektbeteiligten zählen neben der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, der Technischen Hochschule Aachen und der Universität zu Köln das Forschungszentrum Jülich, die 52° North Initiative for Geospatial Open Source Software GmbH und die Ambrosys GmbH. KISTE ist eines von insgesamt 28 ausgewählten KI-Leuchtturmprojekten, das mit 2,5 Mio. Euro im Rahmen der Initiative „KI-Leuchttürme für Umwelt, Klima, Natur und Ressourcen“ des Bundesumweltministeriums gefördert wird.
  • 2) Siehe zum Beispiel DFG-Leitlinien zum Umgang mit Forschungsdaten, https://www.dfg.de/foerderung/antrag_gutachter_gremien/antragstellende/nachnutzung_forschungsdaten

Literatur

Roscher, R., Bohn, B., Duarte, M. F. & Garcke, J. (2020): Explainable machine learning for scientific insights and discoveries. IEEE Access, 8, 42200 – 42216.

Tuia, D., Roscher, R., Wegner, J. D., Jacobs, N., Zhu, X. X. & Camps-Valls, G. (2021): Toward a Collective Agenda on AI for Earth Science Data Analysis. IEEE Geoscience and Remote Sensing Magazine, IEEE Geoscience and Remote Sensing Magazine, 9(2), S. 88 – 104.

 

Weiterlesen zum Thema:

Almeida, R. M., Shi, Q. & Gomes-Selman, J. M. et al. (2019): Reducing greenhouse gas emissions of Amazon hydropower with strategic dam planning. nature communications, 10(4281), https://www.nature.com/articles/s41467-019-12179-5

Bakker, K., Ritts, M. (2018): Smart Earth: A meta-review and implications for environmental governance, Global Environmental Change-human and Policy Dimensions 52, S. 201 – 211, https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/ S0959378017313730

Gale, F., Ascui, F. & Lovell, H. (2017): Sensing reality? New monitoring technologies for global sustainability standards, Global environmental politics, Band 17(2), S. 65 – 83, https://www.mitpressjournals.org/doi/full/10.1162/GLEP_a_00401

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2019): Unsere gemeinsame digitale Zukunft. Berlin: WBGU, https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/unsere-gemeinsame-digitale-zukunft

Das Interview mit Ribana Roscher führte die Journalistin Christiane Schulzki-Haddouti im Rahmen eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung beauftragten Publikationsprojektes zum Thema „KI und Nachhaltigkeit“. Die vollständige Publikation steht als PDF zum Download zur Verfügung.