Aimee van Wynsberghe

Professorin für Angewandte Ethik der Künstlichen Intelligenz an der Universität Bonn

Den Blick auf KI von den Rändern aus weiten

Wie ließe sich KI nach der Ubuntu-Philosophie im Sinne der Gemeinschaft gestalten? Die Ethikerin Aimee van Wynsberghe nimmt am Alexander von Humboldt-Lehrstuhl für Künstliche Intelligenz beim Themenkomplex „KI und Nachhaltigkeit“ die ganze Welt mit.

„Der globale Süden liefert die Rohstoffe und Arbeitskraft für die Entwicklung und Herstellung von KI-Systemen, von der hauptsächlich der globale Norden profitiert“, sagt Aimee von Wynsberghe: „Ist der globale Norden dann irgendwann mit seiner physischen KI-Infrastruktur durch, schickt er sie zurück in die Länder des globalen Südens – in Form von Elektroschrott.“ Die KI-Ethikerin will für dieses Machtgefälle und einen gerechteren Umgang mit den Ressourcen sensibilisieren. Ganz praktisch, um zur Entwicklung konkreter Lösungen für Unternehmen beizutragen, etwa die Messung von Kohlenstoffemissionen und das Management von Elektronikschrott.

Aimee van Wynsberghe ist Alexander von Humboldt-Professorin für Künstliche Intelligenz (KI). Sie leitet das Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) der Universität Bonn und richtete dort 2021 eine eigene Forschungsgruppe für das von ihr neu gegründete „Sustainable AI Lab“ ein, das sich mit KI für Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeit von KI befasst.

Ihrer Ansicht nach wurde der Aspekt „KI für Nachhaltigkeit“, der sich zum Beispiel auf Ressourceneffizienz durch den Einsatz von KI-Lösungen bezieht, bisher überbetont - bis zu einer Art Paukenschlag im Jahr 2019. Eine Forschendengruppe um Emma Strubell an der Carnegie Mellon University/USA hatte damals in einem Paper erstmals auf den enormen Energiebedarf von KI-Sprachmodellen hingewiesen. Aimee van Wynsberghe war schon zu der Zeit Mitglied der „Hochrangigen Expertengruppe für Künstliche Intelligenz“, welche die Europäische Kommission berät. Wie viele Kolleginnen und Kollegen im Feld war auch sie beeindruckt: „Ich dachte: Wow! Über die Umweltfolgen von KI haben wir bisher nicht gesprochen.“

Wie würde eine KI aussehen, die die ganze Welt im Blick hat?

Ein Aha-Erlebnis mit Folgen: Im Sustainable AI Lab macht die KI-Ethikerin die Vielfalt von Wissenssystemen zu einem Schwerpunkt – um möglichst keine wichtigen Perspektiven mehr auszublenden. Und weil das Leben in einer Diskurs-Bubble den Blick verstellen kann, versucht sie die KI-Ethikdebatte von den gesellschaftlichen und weltpolitischen Rändern aus aufzurollen: „Es gibt viele Stimmen im Verborgenen,“ sagt van Wynsberghe, „die sich auf kaum wahrgenommene Konsequenzen wie die ökologische Gestaltung dieser entstehenden KI-Infrastruktur beziehen.“

Aktuell geht die KI-Forscherin der Frage nach, wie sich die Ungerechtigkeit überwinden lässt, die sich aus den „westlichen“ Traditionen der dominanten ethischen Traditionen ergibt. Ihrer Ansicht nach brauche es eine vielfältigere und gerechtere ethische Grundlage für KI, die auch bislang ignorierte indigene Perspektiven einbezieht. „Wir wollen KI-Ethikregeln und -Strategien auf dem afrikanischen Kontinent entwickeln“, sagt van Wynsberghe. „Dabei wenden wir aktuell unseren eurozentrischen Ansatz an, anstatt zu fragen: Wie würde eine KI-Strategie aussehen, wenn beispielsweise die afrikanische Ubuntu-Philosophie die ethische Basis wäre?“

Diese-Philosophie basiert auf der Maxime, dass die Gemeinschaft gedeihen und erfolgreich sein muss: „Ich bin, weil du bist. Es geht nicht darum, dass du meine Rechte und Werte respektieren musst – sondern immer um den Gemeinschaftsgedanken.“ Für van Wynsberghe ein faszinierender Ansatz: „Wie würde KI-Politik aussehen, wenn wir an die globale Gemeinschaft denken und daran, wie sie von KI profitieren kann?“

Im Mai 2024 organisierte sie mit ihrem Team am IWE einen Workshop zur „Dekolonialisierung von KI“, um „indigenen Gemeinschaften eine Stimme und Plattform zu geben, um ihre Perspektiven in die globale Debatte über KI-Ethik einzubringen“. Die Ergebnisse aus diesem und ähnlichen Workshops sowie die Einbindung von Institutionen wie der Universität der Vereinten Nationen sollen gemeinschaftsorientierte Themen in die Diskussionen über nachhaltige KI einbringen.

Diese Fragen sind Teil der inzwischen dritten Diskurswelle in der akademischen Debatte um künstliche Intelligenz. Sie dreht sich um die Schaffung einer KI-Infrastruktur, an der weltweit viele Länder beteiligt sind. Die erste Welle hatte sich mit utopischen und dystopischen Konflikten befasst. In der zweiten Welle ging es um Ethik und KI im Hinblick auf das Design der KI-Systeme, mit der sich Wynsberghe in ihrer Promotion eingehend befasst hat.

Ethik by Design

„Ethik by Design“ ist die zentrale Idee in Aimee van Wynsberghes Promotion an der Universität Twente im niederländischen Enschede von 2012. Sie sprach damals mit Krankenschwestern einer Klinik, um deren Bedürfnisse in der Pflege zu verstehen – und dies in den Designprozess eines Pflegeroboters einzubringen. „Es gibt allerdings immer noch Ingenieurinnen und Ingenieure, die einen Pflege-Roboter entwickeln, aber noch nie das Krankenhaus besucht haben, in dem er eingesetzt werden soll“, erzählt Wynsberghe.

Für sie steht fest, dass Ethikerinnen und Ethiker wegen ihrer kritischen und reflektierenden Sichtweise in solche Designteams einbezogen werden müssen: nicht um den Designprozess zu verzögern oder stoppen, sondern um ihn zu optimieren. Ihr Ansatz stößt auf großes Interesse. Inzwischen wurde die 2012 veröffentlichte Arbeit über 1200-mal zitiert – und Aimee van Wynsberghe weltweit zu einer anerkannten KI-Ethikerin. Sie ist Präsidentin und Mitbegründerin der NGO Foundation for Responsible Robotics in Den Haag in den Niederlanden.

„In Europa verliebt“

Nach dem Schulabschluss hatte sich Aimee van Wynsberghe für ein naturwissenschaftliches Studium entschieden: Zellbiologie an der University of Western Ontario. Nach ihrem Bachelor kam die gebürtige Kanadierin nach Belgien, um das Fach zu wechseln: An der Universität Leuven in Belgien schloss sie zwei Master Degrees in Angewandter Ethik und Bio-Ethik ab. Als sie die Promotionsstelle an der Universität Twente erhielt, entschied sie sich zu bleiben für diese „perfekte Mischung aus Forschungsinteressen und -zielen und den Zielen der Promotionsstelle“.

Mehr noch: „Ich hatte mich in Europa verliebt, wollte hier leben und studieren“, erzählt sie. Ganz neu war die europäische Kultur für sie nicht. Ihre Mutter kam aus Europa, hatte dort als Kind gelebt. „Ich kannte den würzigen Käse, die typischen Suppen und das Brot“, erzählt van Wynsberghe. „Ich hatte auch viele Erinnerungen an meine Oma in den Niederlanden. Trotzdem war der Umzug eine Art Kulturschock. Das Land ist so klein und man fährt überall mit dem Fahrrad hin. Das hatte ich bis dahin nicht gekannt. Aber ich liebte das.“

Heute lebt sie wegen einer außergewöhnlichen Karrierechance in Deutschland: der Alexander von Humboldt-Professur an der Universität Bonn mit der Option, eine eigene Forschungsgruppe zu gründen. „Es wäre dumm gewesen, das abzulehnen“, stellt sie trocken fest. Doch der Umzug war ein großer Einschnitt für die ganze Familie, auch wenn sich van Wynsberghes zwei kleine Kinder schnell eingewöhnten.

In Bonn fällt sie ein wenig aus dem Rahmen: „Ich bin meistens die jüngste Person und oft die einzige Frau im Raum, wenn wir große Vorstandssitzungen und dergleichen haben.“ Den Mangel an Frauen in der Wissenschaft in Deutschland findet van Wynsberghe frappierend, aber auch nachvollziehbar.

Für internationale Konferenzen müsse sie als Alleinerziehende nicht nur die Reise organisieren, sondern auch die Kinderbetreuung. „Ich könnte stundenlang über solche Hindernisse reden,“ sagt sie und betont gleichzeitig, wie wichtig es sei, solche Themen offen anzusprechen, auch und gerade weil sie persönlich am meisten herausfordern. Für die junge Wissenschaftlerin steht damit fest, dass Deutschland als Standort nicht nur mehr Frauen in die Wissenschaft anziehen, sondern sie auch halten können müsse, wenn sie einmal hier sind.

Kann es ethische Denkmaschinen geben?

Für Aimee van Wynsberghe steht außer Frage, dass Ethikerinnen und Ethiker beim Designprozess von KI-Systemen mitwirken müssen. Nur so lasse sich sicherzustellen, dass technologische Entwicklungen den Bedürfnissen der Nutzer und Nutzerinnen auf ethische Weise gerecht werden. In Unternehmen wie DeepMind, Google und Meta sind entsprechende Experten und Expertinnen bereits fest in die Reflexion der sich entwickelnden Technologien eingebunden.

Einer weiteren Automatisierung dieses Prozesses hält sie ein klares Stoppschild vor. Es sei weder sinnvoll noch machbar, Maschinen zu ethischen Denkern zu machen: Sollte sich der Designprozess für eine KI an der Tugendethik nach Aristoteles, der Pflichtenethik nach Immanuel Kant oder einem Konsequentialismus nach Jeremy Bentham oder gar Ayn Rand orientieren? „Wir haben tausende von Jahren damit verbracht, zu diskutieren, was Ethik eigentlich genau ist“, sagt sie. „Aber noch gibt es keinen Konsens darüber. Das bedeutet auch, dass es immer irgendwie Lücken in den ethischen Theorien gibt. Daher verstehe ich nicht, wie wir einen Computer dazu bringen könnten, in diesen Bahnen zu denken, wenn wir uns selbst nicht einig sind, worum es geht.“

Welche ethischen Regeln Unternehmen in eine KI implementieren, ist in der Regel nicht bekannt, weil sie meist unter das Betriebsgeheimnis fallen. Wenn Technologiekonzerne beispielsweise behaupten, ihre KI „for good“ oder „für Nachhaltigkeit“ einzusetzen, legen sie selbst das Maß der Transparenz fest: „Das macht es schwierig, konkret über ethische Überlegungen zu sprechen und diese zu bewerten“, sagt die KI-Ethikerin. „Natürlich sind sie dann transparent. Aber eben nur bis zu dem Punkt, wo alles ok aussieht.“ Noch gibt es keine schlüssigen Antworten auf dieses Problem. Eines aber ist klar: Die Expertise von KI-Ethikerinnen und -Ethikern wie van Wynsberghe bleibt gefragt.

Autorin: Christiane Schulzki-Haddouti
Redigat und Lektorat: Susanne Wedlich