Irene-Angelica Chounta
Professorin für Informatische Methoden in der Modellierung und Analyse von Lernprozessen an der Universität Duisburg-Essen
KI als Schlüssel zur humanistischen Bildung
Das Schlagwort von den „Kompetenzen für das 21. Jahrhundert“ ist für die Informatikprofessorin Irene-Angelica Chounta umstritten. Sie sagt: „Wir bezeichnen diese Kompetenzen, konkret sind das Fähigkeiten wie kritisches Denken, Zusammenarbeit und Kommunikation, als zukunftsorientiert, da sie uns in die Lage versetzen, mit technologischen Fortschritten wie der KI umzugehen.“ Dabei handele es sich jedoch um „zentrale, grundlegende Fähigkeiten, die zeitlos sind und oft nicht explizit im Unterricht gelehrt werden, wie zum Beispiel MINT-Fähigkeiten.
Irene-Angelica Chounta lehrt seit 2021 an der Abteilung für Human-centered Computing and Cognitive Science (HCCCS) an der Universität Duisburg-Essen. Sie entwickelt digitale Werkzeuge und Technologien für Bildungszwecke. KI wird für die Entwicklung von Technologien eingesetzt, die Lernende beim Üben von Fähigkeiten in Bereichen wie Mathematik oder Sprachenlernen unterstützen, sagt sie. Und erklärt sofort, warum das ihrer Ansicht nach zu kurz greift: Basiskompetenzen müssten wie kritisches Denken, Kooperation und Kommunikation im Mittelpunkt des Umgangs für KI stehen. Noch fehlten passende Übungen – und das möchte Chounta auf freien Lernplattformen wie Moodle mit eigens entwickelten Angeboten ändern.
Lernprozesse intelligent modellieren
Lernplattformen wie Moodle sind weltweit an vielen Schulen und Hochschulen im Einsatz. Solche Open-Source-Plattformen unterstützt kooperatives Lehren und Lernen – und werden beständig überprüft und weiterentwickelt: Für das europäische Konsortialprojekt augMENTOR erfasst Irene-Angelica Chounta auf der Plattform Moodle Plattformen Daten aus der Praxis der Lernenden, die ihren kognitiven oder affektiven Zustand anzeigen können, indem sie bestimmte Moodle-Aktivitäten konstruiert. Das heißt, sie erarbeitet zum Beispiel für einen Kurs bestimmte Aufgabenstellungen, die von den Lernenden erledigt werden können – und zu denen sie Feedback geben. Dabei wertet das System KI-gestützt die Aktivitäten live aus, um als KI-Trainer die Lernenden mit individuellem Feedback so zu unterstützen, dass sie am Ball bleiben.
Chounta erklärt das so: „Wenn ein Schüler beispielsweise die Addition von Brüchen lernt, unterteilen wir das Lernziel in mehrere Aktivitäten. Je nach der Zeit, die er dafür aufwendet, den Fehlern, die er macht, der Häufigkeit und der Reihenfolge dieser Fehler, geben wir Feedback: manchmal versuchen wir, Wissen zu erlangen, manchmal verlassen wir uns darauf, die richtige Antwort mit Erklärungen zu geben.“ Gleichzeitig wissen die Lernenden über das Experiment Bescheid; sie können Feedback geben, wenn sie etwa glauben, dass sie missverstanden oder ungerecht bewertet wurden.
Chounta: „Ziel ist eine KI-unterstützte Lern-Management-Plattform, das für verschiedene Bildungskontexte geeignet ist und dabei DSGVO-konform in Europa verwendet werden kann.“ Dabei sollen unterschiedliche Anforderungen für Bildung und Weiterbildung adressiert werden, etwa von Schulen und der Hochschulpädagogik, von zivilgesellschaftlichen Organisationen und Behörden.
Um zu erfahren, wie unterschiedlich Lernende bei diesen Aktivitäten abschneiden, erstellt Chounta mit ihrem Team standardisierte Übungs- und Quizfragebögen. Die Ergebnisse wertet sie mit Methoden des maschinellen Lernens und natürlicher Sprachverarbeitung aus. Viele kleine Puzzlestücke, die ihr helfen sollen, individuelle Lernprozesse nachzuvollziehen.
Das ist eine Voraussetzung, um ein KI-gestütztes Lernsystem für verschiedene Bildungskontexte entwickeln zu können. Mit ganz neuartigen und interaktiven Fähigkeiten: Das System soll wie ein Trainer Lernenden gezielt helfen und ihnen individuelles Feedback geben können. „Dazu berücksichtigen wir das Vorwissen des Lernenden, seine Praxis mit Lernaktivitäten und möglicherweise seine persönlichen Eigenschaften“, erklärt Irene-Angelica Chounta. „Wir verwenden diese Informationen stellvertretend für den kognitiven Zustand des Lernenden und passen das Feedback, das wir geben, in Bezug auf Inhalt, Instruktionsmodus und Zeitpunkt des Feedbacks in Übereinstimmung mit Lerntheorien wie der Theorie des kontingenten Tutors und der Zone der proximalen Entwicklung an.“ Das Forschungsprojekt augMENTOR kombiniert verschiedene KI-Technologien, um das Lernen in verschiedenen Kontexten zu unterstützen: Wissensgraphen und Sprachverarbeitung sollen den Lernprozess verbessern und die Lernenden besser motivieren.
Für Irene-Angelica Chounta ist augMENTOR das erste große Forschungsprojekt, an dem mehrere Partner europaweit mitarbeiten. Zuvor hatte sie an der Universität von Tartu in Estland ein nationales Projekt initiiert, das individuelle Übungsaufgaben in Gruppenlernplattformen wie Moodle integriert. Möglich wurde dies durch ein Forschungsstipendium des estnischen Forschungsrats. Diesen Forschungsansatz hatte sie 2016 während ihres Postdoc-Aufenthalts an der renommierten Carnegie Mellon University, in Pittsburgh/USA näher kennengelernt, als sie sich mit intelligenten Tutorensystemen befasste.
Von Griechenland über die USA, Estland nach Deutschland
Ein Karriereweg, der ganz anders begonnen hatte – und erst über einen entscheidenden Knick in die heutige Richtung führte. Es war Chountas eigener Bildungsweg, der sie motivierte, die Bedürfnisse von Lernenden digital und möglichst gut zu unterstützen. Nach dem Abitur in Athen 1996 studierte sie Elektrotechnik und Informatik an der Universität von Patras in Griechenland. Alles lief gut – bis sie in einer Promotionsarbeit zu Computerarchitekturen stecken blieb: „Das Thema fühlte sich nach drei Jahren Arbeit für mich nicht mehr richtig an“, sagt sie. „Es hatte keinen menschlichen Aspekt.“ Trotzdem fiel es ihr schwer, ein Projekt abzubrechen, in das sie schon so viel Zeit investiert hatte: „Das hat viel Kraft gekostet. Aber ich bin zu dem Zeitpunkt schon morgens ohne Lust aufgewacht, meine Bücher zu öffnen und zu lernen.“
Ein wichtiger Umweg, weil sie merkte, welches Thema besser zu ihr passen würde. Sie startete mit einem neuen Promotionsthema zur Mensch-Computer-Interaktion. Ihr Doktorvater arbeitete an der Frage, wie man eine Software entwickeln kann, die Schüler und Lehrer unterstützt. Eine Antwort darauf liefert sie in ihrer Promotion, die sie 2014 abschloss: Das Modellieren von Lernenden, die Bildungstechnologien nutzen.
Wenn Dinge einmal in die richtige Richtung laufen, geht vieles wie von selbst. Auch bei Chounta: Nach der Promotion „fügte sich alles zusammen, weil ich mit Menschen zu tun hatte, mit Schülern und Lehrern, was immer meine stärkste Motivation war“. Heute rät sie ihren Studierenden möglichst frühzeitig das Thema zu wechseln, wenn sie feststellen, dass es für sie persönlich nicht interessant ist. Und mit Kritik möglichst konstruktiv umzugehen, was nicht immer leicht sei.
„Um unsere Arbeit voranzubringen, müssen wir teilen, was wir tun – und andere werden zu unseren kritischen Freunden“, erklärt Irene-Angelica Chounta auch ihren Studierenden. Oft stelle man fest, dass Kritik tatsächlich berechtigt ist: „Das ist ein Schlag, den man praktisch jeden Tag einstecken muss. Und man muss lernen, damit umzugehen und es in etwas Nützliches zu verwandeln.“
Genau das aber sei ihr am Anfang ihrer wissenschaftlichen Karriere schwergefallen: „In der Schule war ich eine sehr gute Schülerin und stellte sehr hohe Ansprüche an mich. Als dann mein erstes Paper abgelehnt wurde, habe ich geweint und mich gefragt, warum das ausgerechnet mir passieren konnte“, erzählt sie und fügt mit einem Augenzwinkern an. „Vielleicht weine ich heute manchmal immer noch. Aber jetzt bin ich sogar froh, wenn ich kritisches Feedback bekomme, weil ich dann denke, dass ich mich nur so verbessern kann.“
Toolkit für KI in der Bildung
Als KI-Expertin für Bildung des Europarats versucht Irene-Angelica Chounta im Programm „Digital Transformation, Artificial Intelligence and Education“ das Bewusstsein in Politik und Recht für die Auswirkungen von KI in der Bildung zu schärfen: „Wir organisieren Vorträge und erstellen Infografiken, die online veröffentlicht werden und in einer Sprache verfasst sind, die jeder verstehen kann, ohne abschreckende Fachterminologie.“
Aktuell entwickelt sie gemeinsam mit anderen Expertinnen und Experten eine Toolbox für KI-Richtlinien im Bildungsbereich, die vom Europarat veröffentlicht werden soll. Sie soll Schulen, Lehrenden und Eltern helfen, den Einsatz von KI im Klassenzimmer zu bewerten. Grundsätzlich empfiehlt Chounta Lehrenden, die neuen Technologien auch im Schulunterricht zu integrieren, damit Schülerinnen und Schüler sowohl die Vorteile als auch die Probleme eines KI-Bots unmittelbar erfahren können.
Chounta selbst setzt den KI-Bot ChatGPT in ihren Kursen an der Universität Duisburg-Essen ein, um ihren Studierenden einen „angemessenen Umgang“ beizubringen: „Ich necke sie etwas, wenn ich sage: Wenn ihr ChatGPT nutzt, um eure Berichte zu schreiben, ist das in Ordnung. Aber wenn ihr es die ganze Zeit verwendet, werdet ihr in der Prüfung wohl kaum in der Lage sein, die erste Zeile zu formulieren, da ihr schon so an den Bot gewohnt seid.“
Dass KI-Bots wie ChatGPT zu ungenaue, manchmal auch veraltete oder gar falsche Informationen liefern, muss laut der Informatikprofessorin nicht unbedingt unproblematisch sein. Denn genau das zwinge die Nutzenden dazu, Informationen kritisch zu überprüfen und zu verbessern – eine „wertvolle Lernmöglichkeit“, die in eine gute Bildung einzahle.
„Eine umfassende Bildung ist die Voraussetzung große Probleme wie Umweltprobleme, soziale und finanzielle Herausforderungen zu lösen“, betont Irene-Angelica Chounta. Sie geht dabei von einem humanistischen Bildungsbegriff aus. Bildung ist ihrer Ansicht nach kein bestimmter Abschluss, sondern soll das Mitgefühl in Menschen hervorrufen: „Nicht zuletzt kommt ja auch die Hoffnung, die Welt zu retten, aus der Bildung,“ sagt sie und lächelt verschmitzt.