Use Case
Pflegeunterstützende Robotik: Individuelle Betreuung und Assistenz

Use Case im Überblick
Branche: Pflege
Aufgabe: Entlastung von Pflegekräften, um sie in Kerntätigkeiten und Interaktion mit Pflegebedürftigen zu stärken
Methode: Lernen durch Vormachen (Learning from Demonstration), bestärkendes Lernen (Reinforcement Learning) und weitere
Allgemeines
Robotik kann in der Pflege vielfältig eingesetzt werden (siehe Szenario KI zur Unterstützung in der Pflege). Entsprechend breit ist das Forschungsfeld. Es umfasst sowohl Robotersysteme, die eher menschenferne Tätigkeiten übernehmen (z. B. Wäsche transportieren), als auch Systeme, die nahe bzw. direkt am Menschen eingesetzt werden (z. B. Getränke anbieten), oder sogenannte Social Bots, die dazu dienen, Pflegebedürftigen Gesellschaft zu leisten und/oder soziale Kontakte zu pflegen. Im Folgenden liegt der Fokus auf dem Bereich der pflegeunterstützenden Robotik, also Roboter, die Pflegekräfte entlasten, sodass diese sich stärker auf ihre Kerntätigkeiten und die Interaktion mit den Pflegebedürftigen konzentrieren können. So können Roboter beispielsweise in Zukunft dabei helfen, Pflegebedürftigen, die oft zu wenig trinken, Getränke zu holen und zu reichen, Wasserflaschen zu öffnen oder ggf. beim Trinken zu unterstützen. Die Integration von Robotik in die Pflege lässt daher eine hohe Akzeptanz erwarten. Denn in der Pflege besteht Konsens darüber, dass menschliche Zuwendung durch Roboter nicht ersetzt, erschwert oder gefährdet werden darf (Deutscher Ethikrat 2020, S. 7).
Status quo
Es gibt bereits Robotersysteme für das Holen und Bringen von Objekten, die sich jedoch noch im Pilotstatus befinden. Diese Systeme basieren auf vordefinierten und vorprogrammierten Aufgaben, die der Roboter ausführt. So kann der Roboter beispielsweise Medikamente auf einem programmierten Weg von Punkt A nach Punkt B transportieren und ist durch Navigationsalgorithmen in der Lage, Hindernissen auf seinem Weg auszuweichen. Die einzige Interaktion besteht häufig darin, den Roboter zum Punkt A zurückzuschicken. Die Steuerung des Systems erfolgt zum Beispiel über Tablets. Die Manipulationsfähigkeit (z. B. Greifen) ist durch die Hardware begrenzt und aus Sicherheitsgründen auch in der Praxis eingeschränkt. Serienmäßig werden echte lernfähige Robotersysteme in der Pflegeassistenz noch nicht eingesetzt. Denn die Anforderungen an die Interaktion mit Pflegebedürftigen sind äußerst hoch.
Zukunftsperspektiven mit KI
Mittelfristig wird es möglich sein, vordefinierte Fertigkeiten (Tätigkeiten, Wahrnehmung etc.) vor Ort durch Interaktion zu individualisieren: beispielsweise bei der Verfeinerung parametrisierbarer Fertigkeiten, wenn das Gewicht einer Wasserflasche durch die Interaktion mit der Flasche gelernt wird. Ein weiteres Beispiel wäre die Anpassung vortrainierter Modelle zur Erkennung von Objekten, Handlungen und implizitem Feedback (z. B. Gestik, Mimik) an pflegespezifische Kontexte (z. B. Unterscheidung von Pflegenden und Pflegebedürftigen, Erkennen pflegetypischer Tätigkeiten).
Mittel- bis langfristig können Roboter auch durch Interaktion neue Aufgaben erlernen. Die Vision ist das freie Erlernen neuer Aufgaben, was für Forschung und Entwicklung eine Herausforderung darstellt: Denn dazu müssen sowohl bestimmte Verhaltensweisen bzw. Fähigkeiten als auch bestimmte Abläufe erlernt werden. Ein Set an hoch- und niedrigschwelligen Fähigkeiten kann dann neu angeordnet werden, um Aufgaben auszuführen. So könnte ein Roboter durch Interaktion mit Pflegenden Wege und Aufbewahrungsorte und mit Pflegebedürftigen individuelle Vorlieben (z. B. Trinkzeiten und -menge, Lieblingsgetränke, Komfortzonen) erlernen. Anschließend könnten entsprechende Handlungen ausgeführt werden, wie etwa das Holen und Reichen des Lieblingsgetränks zur richtigen Zeit im richtigen Abstand und/oder eine an Beeinträchtigungen angepasste Unterstützung beim Trinken.
Quellen des Lernens
- Entwickelnde in Offline-Phasen, etwa Lernen von Basisfähigkeiten bzw. -wissen in Simulationen und Ausstattung mit einem grundlegenden Vision System zur Objekterkennung
bzw. vortrainierten (multimodalen) allgemeinen Modellen (Basismodellen) - Interaktion mit Pflegekräften (z. B. Wege, Tätigkeiten, Orte, an denen sich Gegenstände befinden)
- Interaktion mit Pflegebedürftigen (z. B. individuelle Präferenzen)
- Selbstbeobachtung des Robotiksystems (z. B. Umgang mit Objekten durch Interaktion mit diesem)
Benötigte Daten
Erfassung von Umgebungsdaten mit multimodaler Sensorik
- LiDAR für optische Abstands- und Geschwindigkeitsmessung (z. B. als Grundlage für die Pfadplanung)
- Allgemein: Daten aus explizitem oder implizitem und bewusstem oder unbewusstem menschlichen Feedback
- Kameradaten (z. B. von Gesichtern und Mimik, um Trinkvorrichtungen zu platzieren)
- Audiodaten (z. B. linguistische und paralinguistische Informationen wie sprachliche Äußerungen und Sprachintonation für Anweisungen)
- Interaktionsdaten (z. B. Wasserflasche ist umgefallen oder wurde erfolgreich übergeben, Vormachen einer Handlung, Zeigen eines Weges)
Methoden des Lernens
- Aktives Lernen durch menschliche Demonstrationen und durch Imitation des Menschen (z. B. Mensch führt ein Getränk auf eine bestimmte Weise an den Mund oder Teach-in,
der Roboter wird geführt und wiederholt die Bewegung) - Reinforcement Learning (z. B. Lernen individueller Präferenzen aus positivem und negativem Feedback)
- Few shot learning (z. B. via vortrainierten, allgemeinen Modellen zur Objekterkennung, die dann an pflegerelevante Objekte angepasst werden)
- Vortrainierte allgemeine Verhaltensmodelle
Qualitätssicherung
Beim Einsatz von Robotiksystemen nah am Menschen ist die funktionale Sicherheit (Safety) entscheidend. Maschinelles Lernen sollte daher immer durch nicht-pflegebedürftige Personen überwacht werden (Human-in-the-Loop). Neu erlernte Fähigkeiten oder Aufgaben müssen durch diese Personen abgenommen und autorisiert werden. Gleichzeitig bedarf es einer regelungstechnischen (Mehrfach-)Absicherung des Systems (z. B. einfache komplette Abschaltung des Systems, mechanische Einschränkungen, Definieren von Korridoren der Anpassbarkeit bei parametrischen KI-Modellen) (siehe auch KI-Kompakt: Hybride KI, S. 8). Für Systeme, die nah an der Marktreife sind, sind Tests in realen Umgebungen der Versorgungspraxis wichtig.
Systemvoraussetzungen
Damit Roboter ihre Umgebung manipulieren können (z. B. ein Getränk greifen), ist eine entsprechende Hardwareausstattung erforderlich. Dies in Abhängigkeit, wo die Berechnungen für die Aktionen des Roboters, aber auch für das Training und die Inferenz der KI-Komponenten angesiedelt sind. Die Rechenressourcen für KI sind lokal im Robotersystem begrenzt (on the edge), was in einem zentralen Rechenzentrum (Cloud), das abgesichert sein muss, so nicht der Fall ist. Darüber hinaus benötigt der Roboter ausreichend Kraft, um die vorgesehenen Objekte halten und tragen zu können, sowie komplementäre und parallele Systeme bzw. multimodale Sensorik mit mehreren Redundanzebenen. Darüber hinaus muss die Wissensbasis des Robotersystems von Anfang an erweiterbar ausgelegt sein.
Weitere Voraussetzungen
- Allgemein: Wenn Robotiksysteme in der Pflege nicht einfach, sicher, schnell und finanzierbar sind, wird ihr Einsatz in der Praxis unwahrscheinlich. Hierzu muss auch klar sein,
wie das Robotiksystem in den Versorgungsalltag integriert werden kann, was dabei zu beachten ist und welche Bedarfe vor Ort tatsächlich bestehen. Besonderheiten möglicher
Interaktionspartner in der Pflege sollten dabei berücksichtigt werden (z. B. Demenz, Pflegestufen). Zudem sollte der Einsatz sowohl für Pflegende als auch für Pflegebedürftige
akzeptabel und transparent sein. Für Pflegende sollten weiterhin einschlägige Aus- und Weiterbildungen eingeplant werden. - Gesetzliche Regelungen: Diese müssen eingehalten werden (z. B. KI-Verordnung, DSGVO – Datenschutzgrundverordnung). Die DSGVO muss beispielsweise bei audiovisueller Aufzeichnung und Präferenzprofilen von Personen berücksichtigt werden. Eine Umsetzung im Sinne von Edge AI könnte hier dem Datenschutz dienlich sein (vgl. Ecker, W., Houdeau, D. et al., 2024).
- Empfehlungen des Deutschen Ethikrates: Darüber hinaus sollten bei der Implementierung und Integration von Robotik in die Pflege die Empfehlungen des Deutschen
Ethikrates (2020) berücksichtigt werden, wie unter anderem die Umsetzung ethischer Prinzipien von Beginn der Entwicklung an (ethics-by-design mit Werten wie Selbstbestimmung,
Identität, Privatheit etc.) und die frühzeitige Einbeziehung von Pflegekräften und -bedürftigen in die Entwicklung (partizipatives Design).
Realisierung und mögliche Hürden
Grundsätzlich ist der Use Case in einem überschaubaren Zeitraum realisierbar, wenn er sich auf das Holen von Getränken beschränkt. Dabei geht es zunächst nur um einfache und parametrisierbare Aufgaben innerhalb spezifischer Rahmenbedingungen (wie Wege zu Gläsern und Flaschen, Bewegen und Öffnen von Flaschen etc.). Pflegeunterstützende Robotiksysteme, die in der Interaktion mit Pflegenden und Pflegebedürftigen lernen, werden aufgrund der oft höheren Variabilität der Szenarien und der Sensitivität gegenüber fehlerhaftem Lernen technisch eher erst in etwa zehn Jahren möglich sein. Eine technische Hürde ist der Mangel an Daten für das Modelltraining. Derzeit sind nicht ausreichend Verhaltens- und 3D-Daten aus verschiedenen Praxisanwendungen frei verfügbar, die z. B. verschiedene Demographien abdecken. Dies gilt insbesondere für die Pflege (z. B. Daten zu unterschiedlicher Pflegebedürftigkeit). Zudem fehlen pflegespezifische Aktionssets. Offene Fragen bestehen auch in Bezug auf die KI-Verordnung (z. B. hinsichtlich der Risikoklassifizierung) und die Zulassung (Von wem darf das System wie lernen? Nur von den Pflegenden oder nur von den Pflegebedürftigen? Soll es Unterschiede nach Pflegestufen geben?).
(Einschätzung I Stand 10/2024)
Entwickelt wurde dieser Use Case mit Expertise aus den Arbeitsgruppen „Lernfähige Robotiksysteme“, „Arbeit/Qualifikation Mensch-Maschine-Interaktion“ und „Gesundheit, Medizintechnik, Pflege“ der Plattform Lernende Systeme, insbesondere von Prof. Dr. Elsa Kirchner (Universität Duisburg-Essen, DFKI), Dr. Dorothea Koert (Technische Universität Darmstadt), Prof. Dr. Oskar von Stryk (Technische Universität Darmstadt), Prof. Dr. Elisabeth André (Universität Augsburg), Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann (Universität Bremen) und Martin Zimmermann (imsimity gmbh).
Weitere Informationen zu Projekten im Bereich Robotik in der Pflege
- Community Innovative Pflege (CIP)
- Förderprojekte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF):
• Robotische Systeme für die Pflege (RoboPflege)
• Autonome Roboter für Assistenzfunktionen: Interaktive Grundfertigkeiten - Roboterassistent GARMI
- Projekt JuBot: Jung bleiben mit Robotern
- KoBo34: Intuitive Interaktion mit kooperativen Assistenzrobotern für das 3. und 4. Lebensalter
- Initiative TCALL: Transfercluster akademischer Lehrpflegeeinrichtungen in der Langzeitpflege
Quellen
Deutscher Ethikrat (2022): Robotik für gute Pflege. Stellungnahme. 2020.
Ecker, W., Houdeau, D. et al. (2024): Edge AI: KI nahe am Endgerät. Technologie für mehr Datenschutz, Energieeffizienz und Anwendungen in Echtzeit. Whitepaper aus der Plattform Lernende Systeme, München. https://doi.org/10.48669/pls_2024-4
Plattform Lernende Systeme (2023): KI Kompakt: Hybride KI: Wissen und Daten kombiniert nutzen (Publikationsreihe).