Potenziale und Herausforderungen einer europäischen KI-Strategie

Ein Expertenbeitrag von Prof. Dr. Klaus Heine, Plattform Lernende Systeme

Durch die rasanten Fortschritte auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz sind in den vergangenen Jahren weltweit zahlreiche Initiativen und nationale Strategien entstanden. Klaus Heine, Professor für Rechtsökonomik an der Erasmus School of Law in Rotterdam und Mitglied der Plattform Lernende Systeme, erläutert, welche Akzente mit den KI-Strategien in verschiedenen Ländern gesetzt werden und worin die Chancen und Herausforderungen einer europäischen KI-Strategie liegen.

Der europäische Weg in der KI-Forschung und -Anwendung ist anders verlaufen als etwa in den USA oder China. Während in den USA große, privatwirtschaftlich organisierte Technologie Giganten entstanden sind, werden die neuen Technologien in China durch den Staat in privaten Unternehmen moderiert. Beide Wege haben in den letzten Jahren ihre eigene Problematik zu Tage treten lassen: Während es in den USA vor allem ungelöste Fragen des wettbewerbspolitischen Umgangs mit den Technologie-Giganten gibt, sind es in China Fragen der demokratischen Kontrolle von Neuen Technologien im Allgemeinen und KI im Besonderen, die gelöst werden müssen. Die Deutsche KI-Strategie ist demgegenüber eingebettet in die europäische KI-Strategie: Der Mensch soll im Mittelpunkt aller Anwendungen von KI stehen! Allerdings wird aus dieser Absicht noch nicht unmittelbar klar, was das konkret für die technologische und ökonomische Wettbewerbsfähigkeit Europas gegenüber den USA oder China bedeutet.

Vertrauen der Bürger als Voraussetzung

Eine Lesart der deutschen und europäischen KI-Strategie ist, dass der vertrauensvolle Umgang mit neuen technologischen Errungenschaften der Schlüssel zu mehr Wettbewerbsfähigkeit und Inklusion gleichzeitig sein soll. Das heißt, das Vertrauen und die Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger gilt als zentrale Voraussetzung, um KI nachhaltig in Wirtschaft und Gesellschaft zu verankern. Eine solche Verankerung wird bedeutsam, wenn das Ziel der KI-Strategie ist, langfristige Wettbewerbsvorteile für Deutschland und Europa zu sichern. Das Weißbuch der EU-Kommission zum Thema KI, in dem ein Konzept für die gesellschaftliche Einbettung der KI-Technologie entworfen wird, baut stark auf diesem langfristig angelegten Ansatz auf. Demokratie und Partizipation stellen hierbei nicht nur die zentralen Mechanismen für die Implementierung von KI-Technologien im Alltag der Bürgerinnen und Bürger dar, sondern sollen die neuartigen Risiken durch KI auch beherrschbar und legitimierbar machen. Rechtliche Regulierung und technologische Innovation werden somit als komplementäre Bestandteile einer europäischen KI-Strategie aufgefasst. Daraus soll eine Transformation in tragfähige und innovative Geschäftsmodelle mit KI-Anwendungen erfolgen und der Abstand zu den USA und China in den KI-Anwendungen verringert werden.

Förderung von zwischenstaatlicher Forschungskooperation notwendig

Besondere Beachtung verdient die Kooperation im Bereich Forschung und Anwendung zwischen den europäischen Partnerländern im Allgemeinen und den großen nationalen Forschungsinstituten im Besonderen. Dabei ist zu bemerken, dass auf Ebene der Forschung selbst, etwa im Rahmen der europäischen Forschungsförderung von Horizon 2020 und dem kommenden Forschungsprogramm Horizon Europe, bereits eine Vielzahl von gemeinsamen Forschungsprojekten an - gestoßen wurden und zukünftig noch werden. Im Bereich der anwendungsorientierten zwischenstaatlichen Kooperation in Europa besteht hingegen ein Nachholbedarf. So gibt es derzeit mit dem von Frankreich und Deutschland angestoßenen Projekt GAIA-X den Versuch, eine europäische Dateninfrastruktur aufzubauen. Unabhängig davon könnte auch die Schaffung eines innovations- und wettbewerbsfreundlichen Rahmens für Technologien zu neuen Innovationen führen, die sich am Markt etablieren und durchsetzen können. Insgesamt ist es zu begrüßen, dass die deutsch-französische Kooperation im Bereich KI, die in der gemeinsamen KI-Roadmap entworfen wurde, für die gesamte EU eine politische Triebkraft darstellt. Der Dialog zwischen Frankreich und Deutschland regt den gesellschaftlichen Diskurs über KI insgesamt an, ohne sich auf einen wirtschaftspolitischen Stil festzulegen. Gleichzeitig zeigt die Erklärung, so wie auch das Weißbuch der EU-Kommission, auf, dass Europa eine andere KI-Strategie wählt als die USA oder China.

Historische Meilensteine als Vorbilder für neue Lösungsansätze

Künstliche Intelligenz und Big Data verändern weltweit nicht nur Geschäftsmodelle (z.B. Plattformökonomie), sondern die neuen Technologien wirken auch disruptiv auf unser Recht und fordern die bestehende Rechtsdogmatik heraus. Um dieser Herausforderung zu begegnen, bedarf es neuer Rechtsfiguren und Lösungsansätze, um sicherstellen zu können, dass die neuen Technologien zum Wohle der gesamten Gesellschaft eingesetzt werden. Der Widerstand, lange eingeübte Muster der Rechtsdogmatik in Frage zu stellen und damit Ungewissheit in den eigenen Routinen zu tolerieren, ist freilich in der Rechtswissenschaft und bei den Rechtsanwendern beträchtlich. Dies ist mit dem Mangel an Mut von Unternehmern vergleichbar, neue KI-Geschäftsmodelle am Markt zu testen, weil der unmittelbare Erfolg nicht gewährleistet ist. Dies ist umso bedauerlicher, weil andere Länder Deutschland und der EU bei der Erforschung und Anwendung von KI-Technologien schon einen Schritt voraus sind. Es wird demnach nicht einfach sein, im Bereich der Anwendung von KI mit eigenen Geschäftsmodellen noch aufzuholen. Demgegenüber könnten Deutschland und Europa eine Führungsrolle hinsichtlich der rechtlichen Dimension von KI übernehmen und so zu einem weltweit wichtigen Impulsgeber für Haftungs- und Wettbewerbsfragen mit KI werden. Die Tatsache, dass Deutschland einmal der Inkubator für die Entwicklung einiger der wichtigsten heutigen Rechtsfiguren war, sollte Ansporn sein, an diese Tradition anzuknüpfen. Erinnert sei nur an die betriebliche Mitbestimmung ab dem späten 19. Jahrhundert mit der Einführung von Arbeiterausschüssen, um die vielfältigen Risiken der technisierten Fabrikarbeit gesamtgesellschaftlich zu kontrollieren. Als weiteres Beispiel kann hier die Verhandlung des berühmten Stromdiebstahlfalls von 1899 angeführt werden. Hierbei ging es um die physikalischen Eigenschaften von Elektrizität und deren Bedeutung für ihre rechtliche Erfassung. Auch die Erfindung des deutschen GmbH-Rechts, das kleinen und mittelgroßen Unternehmen das Eingehen unternehmerischer Risiken erlaubte, veranschaulicht die Bedeutung verbindlicher Rechtsfiguren. Schließlich wäre noch das Konzernrecht zu nennen, das komplexe Über- und Unterordnungsverhältnisse von Kapitalgesellschaften regelt. Alle diese Rechtsinnovationen liegen ungefähr 100 Jahre zurück, bestimmen aber noch maßgeblich das deutsche Recht und haben weltweit andere Rechtsordnungen inspiriert, ähnliche Rechtsfortschritte zu unternehmen, um technologischen und ökonomischen Fortschritt zu befördern. Ein vergleichbarer Innovationsschub im Recht wäre angesichts der Neuen Technologien ein erheblicher Standortfaktor für Deutschland und Europa.

Rechtspersönlichkeit und Verantwortlichkeit von KI definieren

Vor allem zwei große Fragenkomplexe bedürfen in den folgenden Jahren einer Antwort: Erstens muss die Rechtspersönlichkeit von KI und die damit im Zusammenhang stehende Verantwortungszuschreibung von KI-basierten Systemen geklärt werden. Diese Frage hat eine ähnliche Tragweite wie vor 200 Jahren die Frage, ob Unternehmen eine eigene Rechtspersönlichkeit haben können und wenn, welche. Zweitens ist neben der Frage der Rechtspersönlichkeit von KI auch die Frage des Dateneigentums zentral – dazu muss die Frage diskutiert werden, ob und unter welchen Umständen Daten persönliches oder gesamtgesellschaftliches Eigentum sind. Hierbei muss zweifellos zwischen verschiedensten Datenkategorien unterschieden werden. Es bleibt aber die Basisfrage zu beantworten, welcher Startpunkt gewählt wird, um Rechte an Daten zu verteilen. In diesem Zusammenhang kann erneut auf ein historisches Beispiel verwiesen werden: Mit der Kernenergie gab es schon einmal eine technologische Innovation, die einerseits enormes wirtschaftliches Potenzial verspricht, aber auch sehr gefährlich für die Allgemeinheit im Hinblick auf mögliche Reaktorunfälle sein kann. Zudem bedarf Kerntechnik eines ausgefeilten Spezialwissens in Atomphysik als auch die Verfügung über Kernbrennstäbe und ein Konzept für Atommüll. Es sind also enorme Investitionen in diese Technologie nötig, um ihre Vorteile nachhaltig nutzen zu können. Eine Möglichkeit ist, die Kerntechnologie wie jede andere Technologie durch die Gewerbeaufsicht zu kontrollieren – es also der Privatwirtschaft unter Auflagen zu gestatten, den Markt privat zu organisieren. Dieser privatwirtschaftliche Weg wurde in den 1950er Jahren auch ausgiebig im Deutschen Bundestag diskutiert, bevor es unter Anstoß des französischen Europapolitikers Jean Monnet zu einer anderen Lösung kam. Es wurde die Europäische Atomgemeinschaft (EAG bzw. EURATOM) gegründet. Diese unabhängige europäische Institution wurde geschaffen, um die Einhaltung der festgesetzten Regeln im Umgang mit der Kernenergie im europäischen Wirtschaftsraum zu überwachen, zudem wurde diese Behörde zum Eigentümer aller Brennstäbe beziehungsweise aller Spaltmaterialien in der EU. Unternehmen wird jedoch ein unbeschränktes Nutzungs- und Verbrauchsrecht an Spaltmaterial eingeräumt, wenn die Unternehmen bestimmte Voraussetzungen zum Umgang mit dem Spaltmaterial erfüllen. Dabei können auch verschiedene Risikoklassen von Spaltmaterial berücksichtigt werden. Sollte ein Unternehmen nicht ordnungsgemäß mit Spaltmaterial um - gehen oder sollten erhebliche Wettbewerbsprobleme im Kernenergiemarkt auftreten, kann EURATOM sein Eigentumsrecht ausüben und das Unternehmen von der Nutzung des Spaltmaterials ausschließen. 

EU als Impulsgeber für Rechtsinnovationen bei KI und Big Data

Es ist interessant, das Governancemodell von EURATOM auf Big Data und KI zu übertragen: KI ist gleichsam die Kerntechnologie, während Big Data das benötigte Spaltmaterial liefert. KI und Big Data können in Kombination sowohl Segen als auch Fluch sein. Es spricht einiges dafür, darüber nachzudenken, ob das Eigentum an Daten nicht grundsätzlich an eine unabhängige europäische Institution übertragen werden sollte, die dann entsprechend des verfolgten Interesses von Unternehmen, staatlichen Stellen oder privaten Personen Datennutzungsrechte einräumt. Hierbei können dann unter anderem Risikoklassen, bestimmte ethische Standards, Privatheit und technische Erfordernisse berücksichtigt werden. Aber aber auch die Idee eines gemeinsamen digitalen Marktes in der EU könnte mit Hilfe dieser Lösung umgesetzt werden. Deutschland und die EU haben noch alle Möglichkeiten, um Weltklasse in der rechtlichen Regulierung der neuen Technologien zu werden.

Expertenbeitrag erschienen in:

Fortschrittsbericht der Plattform Lernende Systeme
Dezember 2020

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