KI für die Fachkräftesicherung nutzen
Ein Expertenbeitrag von Michael Heister, Leiter der Abteilung „Initiativen für die Berufsbildung“ im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) und Mitglied der Plattform Lernende Systeme
Die deutsche Gesellschaft sieht sich in den anstehenden Jahren mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert. Für den Erhalt von Innovationskraft, internationaler Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand ist der Fachkräftemangel eine dieser zentralen Herausforderungen. Der Mangel an qualifiziertem Fachpersonal schlägt sich bereits heute in vielen Bereichen deutlich nieder, und seit langem ist bekannt, dass die demographische Entwicklung als Katalysator der Fachkräfteproblematik wirken wird: Die Zahl der potenziell Erwerbfähigen wird bis 2035 voraussichtlich um mehrere Millionen sinken.
Gleichzeitig befinden sich die deutschen Unternehmen mitten in einem disruptiven technologischen Wandel, der seinerseits wiederum gesamtgesellschaftliche Bemühungen braucht, um den Anschluss an technologische Souveränität und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit nicht zu verlieren. Als ein wesentliches, neues Element eröffnet Künstliche Intelligenz (KI) große Potenziale in der modernen Arbeitswelt: KI-Technologie kann nicht nur Produktionsabläufe optimieren und Prozesse der Sachbearbeitung, zum Beispiel der Auftragsabwicklung, verbessern, sondern ermöglicht auch neue zukunftsfähige Geschäftsmodelle. Besonders das Aufkommen von generativer KI erlaubt den Einsatz in Bereichen wie der Sacharbeit, in denen eine KI-gestützte Entlastung von Beschäftigten bislang nur schwer denkbar war.
In der Kombination beider Trends ergibt sich die große Chance, durch den zielgerichteten Einsatz von KI-Technologien dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Inwiefern Künstliche Intelligenz zur Fachkräftesicherung beiträgt, kann dabei in unterschiedlichen Dimensionen gedacht werden und über die bloße Substitution von Tätigkeiten hinausgehen
Einsatzfelder von Künstlicher Intelligenz zur Fachkräftesicherung
- Automatisierung und KI-basierte Assistenz: Die KI-basierte Automatisierung von Tätigkeiten kann den künftigen Bedarf an Fachkräften zum Teil mindern. Allerdings gerät die Lösung des Fachkräfteproblems durch KI-basierte Automatisierung in einigen Branchen sehr schnell an ihre Grenzen, etwa in sozialen Berufen wie der Pflege, in denen eine soziale, menschliche Interaktion unersetzbar ist. Weitaus größere Potenziale ergeben sich jedoch in der Entlastung von Beschäftigten und der Steigerung ihrer Produktivität durch KI-basierte Automatisierung. Wenn KI-Systeme automatisierbare Teilaufgaben und Routinetätigkeiten übernehmen, kann dies nicht nur die Fachkräfteproblematik entschärfen. Beschäftigte würden auch Freiräume für wichtige Aufgaben hinzugewinnen, etwa für Weiterbildungen oder Sorgearbeit, wie beispielsweise die Kinderbetreuung oder Pflege von Angehörigen.
- Integration in den Arbeitsmarkt: KI kann dazu beitragen, den konkreten Bedarf an Fachkräften zu erfüllen, indem es potenzielle Beschäftigte dabei unterstützt, am Arbeitsmarkt zu partizipieren. Dies gilt in besonderem Maße für Menschen mit Beeinträchtigungen, etwa durch die Unterstützung stark seh- oder hörbeeinträchtigter Personen mittels KI-basierter Assistenzmittel. Zudem können lernbeeinträchtigte Jugendliche und junge Erwachsene ganz besonders von KI-unterstützten adaptiven Lernformen profitieren, die auf den einzelnen zugeschnittene individuelle Lernangebote bereitstellen. (Langzeit-)Arbeitslose können durch kompetenzbasiertes Matching von Bewerberinnen und Bewerbern und offenen Stellen schneller in eine Beschäftigung zurückgeführt werden. Durch maschinelles Lernen werden dabei aus Jobbeschreibungen die tatsächlich erforderlichen Kompetenzen extrahiert und für ein Matching anstelle formaler Qualifikationen verwendet. Dies könnte bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle spielen, wenn möglicherweise einzelne Kompetenzen und Qualifikationen vorhanden sind, aber ein entsprechender (Berufs-)Abschluss fehlt.
- Wissenstransfer in die Zukunft: KI kann beim Up-Skilling von Beschäftigten mit individualisierten Weiterbildungsplänen und KI-basiertem Wissenstransfer unterstützen. Denn mit dem Ausscheiden der sogenannten Babyboomer aus dem Berufsleben droht in den nächsten Jahren wichtiges Erfahrungswissen verloren zu gehen. Implizites Wissen beispielsweise im Umgang mit Maschinen ist vorrangig in den Köpfen und Körpern der Beschäftigten vorhanden. Dieses Wissen an die kommende Generation zu übergeben, wird durch die Schwierigkeit, geeignete Personen für die Ausbildung zu gewinnen, erschwert. KI kann mit Sensorik das Erfahrungswissen der Beschäftigten im Arbeitskontext erfassen, auswerten und abspeichern und im nächsten Schritt die so erlernten Informationen anwendungsbezogen an die kommenden Fachkräftegeneration weitergeben.
Teilhabe und Vertrauen schaffen durch geeignete Rahmenbedingungen
Künstliche Intelligenz allein wird dabei die anstehenden Fachkräfteengpässe nicht beseitigen können. Als ein Element eines breit aufgestellten Maßnahmenpaketes und konkreten (gesellschafts-)politischen Lösungsansatzes kann KI-Technologie aber einen wichtigen Beitrag zur Fachkräftesicherung leisten. Dabei kommt es auch darauf an, dass Unternehmen und Beschäftigte für den Einsatz von KI die richtigen Rahmenbedingungen vorfinden: Darunter fällt unter anderem, dass die Beschäftigten, die Fachkräfte, die durch den Einsatz von KI entlastet oder zur Teilhabe am Arbeitsleben befähigt werden sollen, vertrauensvoll und sicher mit der Technologie interagieren. Beispielsweise ist ein effektiver Schutz vor unerlaubter Leistungsüberwachung durch KI, wie ihn die KI-Verordnung der EU vorsieht, ein wichtiges und unverzichtbares, vertrauensbildendes Element.
Von Wirtschaft und Politik erfordert ein „Wandel durch KI“ wiederum, dass notwendige Investitionen vorgenommen werden müssen, beispielsweise in nachhaltige (Rechen-)Infrastrukturen. Angesichts der derzeit vielfältigen Herausforderungen, wie etwa dem Klimawandel und dem Krieg in der Ukraine, dürfen Entscheiderinnen und Entscheider nicht den Blick für strategisch kluge Investitionen verlieren. Unternehmen fit für KI zu machen, steht in keinem Widerspruch dazu, diese drängenden Probleme anzugehen. Investitionen in KI tragen langfristig wirksam zur Lösung großer gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen bei.
Darunter fällt auch ein nachhaltig geförderter Wissenschaftstransfer für den KI-Standort Deutschland: Deutschland ist exzellent in der KI-Forschung aufgestellt. Die deutsche Spitzenposition muss sich in Anwendungen und Geschäftsmodellen niederschlagen. Besonders KMU brauchen dabei gezielte Förderung, da sie sowohl durch den Fachkräftemangel als auch den KI-Wandel besonders getroffen sind. Deutschland kann es sich nicht leisten, dass der hierzulande traditionell stark ausgeprägte Mittelstand den Anschluss verlier
Beitrag erschienen in:
Handelsblatt Journal
Dezember 2024