Europa ist mehr. Vorbereitung auf die zweite Halbzeit der Digitalisierung.
Ein Plädoyer von Johannes Winter & Jochen Werne
Der Blick in die Welt lässt bisweilen den Eindruck entstehen, außerhalb Europas würde vieles besser laufen. Beispiele? Der weltgrößte Flughafen Peking-Daxing geht nach vier Jahren Bauzeit in Betrieb, während am BER auch nach 13 Jahren noch gebaut wird. Die mit 4,5 Mrd. $ bewertete Kaffeehaus-Kette Luckin Coffee wird zum Jahresende Starbucks als Nr. 1 im chinesischen Markt ablösen und dies zwei Jahre nach Gründung. Digitale Plattformunternehmen wie Apple, Amazon, Alphabet, Tencent & Co. haben die klassischen Rohstoff- und Industriekonzerne in ihrem Wert hinter sich gelassen.
Was hat diese amerikanischen und asiatischen Unternehmen so groß gemacht? Absoluter Umsetzungswille bei hoher Geschwindigkeit, massive staatliche und private Investitionen, bisweilen industriepolitische Eingriffe, riesige, skalierbare Heimatmärkte und eine Just-do-it-Mentalität begünstigen neben einer Reihe weiterer Faktoren die wirtschaftliche und technologische Entwicklung.
Befindet sich Europa dagegen auf dem absteigenden Ast? Verliert der Kontinent nun die viel diskutierte zweite Halbzeit der Digitalisierung, in der es vor allem um die Digitalisierung der Industrie geht, nachdem das B2C-Rennen erst einmal verloren zu sein scheint?
Die jüngere Geschichte kann man auch anders erzählen. Die Finanzkrise 2008/2009 hat gezeigt, wie wertvoll Europas und gerade Deutschlands starker industrieller Kern ist. Ein hochspezialisierter, exzellenter Mittelstand und die Leitkonzerne von Maschinen-, Anlagen- und Fahrzeugbau bis Pharma und Chemischer Industrie sind Stabilitätsanker. Mit Industrie 4.0 kommt die Vision für die Zukunft der Wertschöpfung aus Deutschland und weltweit wetteifert man um eine flächendeckende Einführung.
Die Stärke liegt in der Produktinnovation, insbesondere bei komplexen Produkten wie Werkzeugmaschinen, Medizinprodukten, Fahrzeugen oder Gebäudetechnik. Auch verfügt Deutschland über Weltmarktführer beim Engineering und der Produktions- und Automatisierungstechnik. Allen negativen Voraussagen zum Trotz hat Deutschland mit der IoT-, Daten- und Dienste-Integration in industrielle Umgebungen seine Stärke bei vernetzten physischen Plattformen weiter ausgebaut und sich eine sehr gute Ausgangsposition gesichert. Auch die deutsche Forschungslandschaft hat in erfolgskritischen Bereichen wie semantischen Technologien, maschinelles Lernen sowie der digitalen Modellierung von Produkten und Benutzern eine international gute Stellung inne. Und nicht zu vergessen, haben die Unternehmen im Land herausragende Softwareprodukte für die schnelle, zuverlässige und skalierbare Verarbeitung von Big Data und die Integration von Geschäftsprozessen hervorgebracht.
Während Deutschland seine Vorreiterposition als Ausrüster der Welt festigen will, setzen die USA auf ihre Kompetenz als globaler Vernetzer und China auf kurze Entscheidungswege, Kapitalintensität und einen großen Binnenmarkt, in dem sich schnell skalieren lässt. In dieser Situation kommt es darauf an, dass wir uns auf unsere Stärken konzentrieren und die Digitalisierung von Industrie und Mittelstand entschlossen angehen. Dazu braucht es allerdings einen deutlich schnelleren Einstieg in die entstehenden B2B-Plattformmärkte.
Wir stehen in Europa für ein freiheitliches Wertesystem, sowohl wirtschaftlich, wie auch politisch, welches sich wie in der Vergangenheit bereits, mittel- und langfristig als das entscheidende Differenzierungsmerkmal herausstellen kann. Die Diskussion um den Einsatz von Daten wird in Europa in guter Tradition auf einem ausgesprochen hohen Niveau geführt und dies im guten Verständnis, dass die Digitalisierung nicht über uns hereinbricht, sondern von Menschen gemacht wird und diesen dienen soll.
Es ist daher der richtige Moment, einen entschlossenen Schritt in Richtung Zukunft zu gehen und Europas Weg zu erschließen. Dafür brauchen wir einen großen homogenen Heimatmarkt, der uns annähernd konkurrenzfähig mit USA und China macht. Zudem substantielle Investitionen in die digitale Infrastruktur und die Cybersecurity sowie Aus- und Weiterbildung. Beide Wettbewerbsregionen haben derzeit die Macht, auch bei der Digitalisierung Standards zu setzen. Das Ziel der Europäischen Union einen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen ist löblich, doch die abschließende Umsetzung steht noch aus. Diese Umsetzung jedoch ist der wichtige und sehr konkrete nächste Schritt, um die wettbewerbsrelevanten Skalierungseffekte erzielen zu können und bei datenbasierten Geschäftsmodellinnovationen konkurrenzfähig mitspielen zu können.
Die zweite Halbzeit läuft und es ist nichts verloren.
Jochen Werne (48) ist Mitglied der Geschäftsleitung und Chief Development Officer der Prosegur Cash Services GmbH, sowie Mitglied der Plattform für Künstliche Intelligenz Lernende Systeme und des Royal Institute of International Affairs, Chatham House.
Dr. Johannes Winter (42) leitet die Geschäftsstelle der Plattform Lernende Systeme und den Technologiebereich bei der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech).