Die zweite Welle der Digitalisierung. Deutschlands Chance

Ein Gastbeitrag von Henning Kagermann und Johannes Winter

Mit der Digitalisierung steigt die globale Vernetzung, Innovationszyklen werden datengetrieben beschleunigt, die Grenzen zwischen den Industrien verschwimmen. In rasantem Tempo verändert die Digitalisierung unsere Arbeits- und Lebenswelt. Roboter kommen aus dem Käfig und arbeiten mit dem Menschen zusammen, autonome Systeme navigieren uns sicher durch den Verkehr, ein selbstbestimmtes Leben wird auch im hohen Alter dank intelligenter Helfer möglich. Und individuelle Produkte und Dienste zum Preis eines Massenprodukts werden nun Realität.

Henning Kagermann, Vorsitzender des acatech Kuratoriums. ©acatech/D. Ausserhofer

Allem Hype zum Trotz ist die Digitalisierung kein neuer Trend. Bereits zu Beginn der 70er-Jahre setzte die dritte industrielle Revolution ein, die bis heute anhält. Sie ist geprägt durch den Einsatz von Elektronik und IT in der Wirtschaft und eine voranschreitende Standardisierung und Automatisierung von Geschäftsprozessen. Voraussetzung ist das exponentielle Wachstum von mehreren Leistungsparametern: Prozessoren, Speichern und Netzen, so wie es das mooresche Gesetz beschreibt. Exponentielles Wachstum ist typisch für die IT-Branche, jedoch kaum für die klassischen Industrien. Lange Zeit spürt man kaum etwas, sodass viele Akteure Entwicklungen als uninteressant einstufen und frühzeitig aussteigen. Dann geht es jedoch sehr schnell; so schnell, dass es häufig nicht mehr gelingt, aufzuspringen oder den Anschluss zu halten.

In der Produktion setzte die von Elektronik und IT getriebene Automatisierung ein, was zu dramatischen Strukturveränderungen der Wertschöpfungsketten und Beschäftigungsstrukturen führte. Alle Geschäftsprozesse wie Aufträge, Bestellungen, Rechnungen, Warenströme oder Zahlungen werden durch Papierbelege dokumentiert. Diese Papierbelege bekamen einen digitalen Zwilling, also ein virtuelles Abbild, wurden im Unternehmens-IT-System miteinander vernetzt und in nahezu Echtzeit verarbeitet. Durch Standardisierung und Automatisierung wurden Geschäftsprozesse effizienter, schneller und transparenter. Das Übernehmen von best business practices führender Unternehmen war gängige Praxis.

Als im Jahr 2000 die Dotcom-Spekulationsblase platzte, gab es bereits das Beispiel des Getränkeautomaten, der eigenständig Nachschub orderte. Auf der Suche nach dem Geschäftsmodell des Informationszeitalters waren elektronische Marktplätze als Wegbereiter für dynamische Geschäftsnetzwerke und real-time business in Mode. Viele der Technologiefirmen, die heute in aller Munde sind, waren bereits damals in einer ähnlichen Form am Markt, so beispielsweise Google, Amazon, Netflix oder die Vorgänger von Facebook.

Johannes Winter, Leiter der Geschäftsstelle

Seit einigen Jahren erleben wir eine zweite Welle der digitalen Transformation und damit eine vierte industrielle Revolution. Die notwendigen Informations- und Kommunikationstechnologien sind mittlerweile so kostengünstig, dass sie in der Fläche eingesetzt werden können. Viele der Dotcom-Versprechungen werden dadurch heute Wirklichkeit. Zugleich gibt es neue Aspekte der Digitalisierung, die weit über das hinausgehen, was beim letzten großen Hype im Fokus stand.

Wir können sie mit den Wörtern smart, vernetzt, autonom umschreiben. Smart bedeutet: Nahezu jedes Objekt wird digital anschlussfähig und vernetzt. Jetzt bekommen nicht nur die Papierdokumente, sondern alle physischen Objekte einen digitalen Zwilling. Maschinen, Produktionsanlagen, Fahrzeuge oder auch Haushaltsgeräte mit eingebetteter Elektronik werden über das Internet vernetzt. Reale und virtuelle Welt verschmelzen zu cyber-physischen Systemen. Es entsteht ein Internet der Dinge, welches in alle Arbeits- und Lebensbereiche vordringt. Die Erhebung und Nutzung von Daten wird allgegenwärtig. Durch künstliche Intelligenz (KI) angetriebene lernende und autonome Systeme nutzen sie, um selbstständig Entscheidungen zu treffen, auch auf der Grundlage eigener Lernprozesse.

Für Deutschland stellen diese Entwicklungen eine Herausforderung, jedoch vor allem eine Chance dar. Handlungsleitend sollte dabei sein, dass die Digitalisierung vor allem von Menschen für Menschen gemacht wird.

Treiber des Wandels

Sieben Aspekte kennzeichnen die zweite Welle der Digitalisierung:

1. Hyperkonnektivität und Internet der Dinge

Immer mehr Produkte, Dienste, Engineering- und Produktionsprozesse sowie Teile der Infrastruktur werden über das Internet der Dinge, Dienste und Daten vernetzt. Wir kennen das aus dem Business-to-Consumer-Bereich (B2C). Mit Mobilitäts-Apps kombinieren wir die passenden Verkehrsmittel für den schnellsten Weg zum Ziel, buchen Tickets und finden ein passendes Restaurant am Zielort. Im Hintergrund führt eine digitale Mobilitätsplattform eine Vielzahl von Daten zusammen: Nutzerprofile, Fahrzeug- und Umgebungsdaten aus Kartendiensten oder Wetterprognosen. Solche Anwendungen verändern zusehends auch die Industrie. In einer Smart Factory sind intelligente Produkte, Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel miteinander vernetzt und steuern die Produktion aktiv mit. Der Rohling sagt der Maschine, wie er bearbeitet werden will. Das Produkt weiß nicht nur, wie es gefertigt werden soll, es speichert in einem digitalen Produktgedächtnis seine gesamte Historie vom ersten Entwurf bis zum Recycling. Maschinen, Roboter, Förder- und Lagersysteme verhandeln untereinander, wer über freie Kapazitäten verfügt. Dadurch ergeben sich ganz neue Anforderungen an die IT-Infrastruktur. Während die besten Netze heute Latenzzeiten von zehn bis 15 Millisekunden aufweisen, bietet der kommende 5G-Mobilfunkstandard annähernd Echtzeitfähigkeit für das mobile Internet. Zwischen Datenabruf und Datenbereitstellung liegt künftig nur noch eine Millisekunde. 5G ist schnell, verzögerungsfrei, energieeffizient und zuverlässig – eine Grundvoraussetzung etwa für »Industrie 4.0« oder das autonome Fahren.

2. Individualisierung

Charakteristisch für die vierte industrielle Revolution ist der Übergang zu vernetzten, dezentralen und autonomen Systemen. Denn nur so lassen sich die erhöhte Komplexität beherrschen und ein zentrales Versprechen einlösen: individuelle Produkte und Dienste zu den Bedingungen eines Massenprodukts und ein überlegenes Nutzererlebnis. Dazu benötigt man extrem anpassungsfähige Systeme, die sich eigenständig rekonfigurieren, lernen und autonom agieren. Mithilfe von Sensoren erheben smarte Produkte auch nach ihrer Herstellung kontinuierlich Daten. Diese intelligenten Objekte versorgen uns mit Unmengen von Realweltdaten – quasi zum Nulltarif: über ihren Zustand, ihre Umgebung und das individuelle Nutzungsverhalten. Diese Daten können mit solchen aus anderen Quellen kombiniert werden, etwa mit Informationen aus sozialen Netzwerken, Wetter-, Verkehrs- oder Marktdaten. Wer zukünftig die Daten der Gegenstände, Geräte und Maschinen mit den Daten der Nutzer zusammenbringt, ist in der Lage, dem Nutzer passgenaue Angebote zu machen, die dessen Gewohnheiten, Bedürfnissen und Vorlieben entsprechen, sogenannte Smart Services.

3. Smart Services und datengetriebene Geschäftsmodelle

Der Nutzer steht also erstmals im Zentrum. Aus der Versicherungswirtschaft kennen wir bereits flexible Pricingmodelle. Der Kunde erhält einen garantierten Nutzen und zahlt nur nach Output. Diese Angebote funktionieren nach dem Prinzip everything as a service: Statt eine Werkzeugmaschine zu kaufen, bezahlt man nur die Maschinenstunde oder nach Anzahl produzierter Einheiten. Und über analytics as a service können Kunden datenbasiert ihre Entscheidungsgrundlage verbessern, Kaufverhalten analysieren oder ihr Flottenmanagement optimieren. Der neue Datenreichtum schafft einen Mehrwert für alle Marktteilnehmer, etwa durch geringere Transaktionskosten und bessere Passgenauigkeit von Angebot und Nachfrage. Daten bekommen einen monetären Wert – ein Grund, warum von Datenökonomie oder Datenkapitalismus gesprochen wird. Die benötigten Daten werden auf digitalen, meist cloudbasierten Technologieplattformen zusammengeführt, analysiert und interpretiert, wobei Methoden und Werkzeuge des maschinellen Lernens zum Einsatz kommen. Autonome Softwaresysteme wie selbstlernende Robo-Advisor oder Assistenzsysteme tragen zu einem personalisierten und bequemen Nutzererlebnis bei. Die Rekonfiguration wird nicht mehr manuell realisiert, sondern ist auch autonom und dynamisch im Betrieb. Im Ergebnis haben wir erstmalig hochanpassungsfähige Prozesse auf allen Organisationsebenen: vom Hallenboden bis zur Geschäftsebene, weshalb von einer neuen Welle des business process reengineering gesprochen wird.

4. Autonome Systeme

Wir sprechen von autonomen Systemen, wenn diese ein vorgegebenes Ziel ohne menschliche Steuerung oder vorgegebene Handlungspläne selbstständig und an die Situation angepasst erreichen. Die zentralen Komponenten autonomer Systeme sind Sensorik, Selbstregulation und Aktorik. Die Selbstregulation autonomer Systeme wird dabei durch die Elemente der Wahrnehmung und der Interpretation, der Planung und Planerkennung, des Lernens und des Schlussfolgerns sowie der Kommunikation und Kollaboration ermöglicht. Aufgrund der enormen Fortschritte in der KI ist es uns heute möglich, aus den durch die Sensoren erhobenen Daten wertvolle Informationen und Erkenntnisse in Echtzeit zu gewinnen. Diese Daten dienen auch als Trainingsmaterial für lernende und autonome Systeme. Diese Systeme erkennen die Struktur ihrer Umgebung von selbst und generieren ihre eigene Wissensbasis, die im Betrieb fortwährend aktualisiert werden kann. Selbstfahrende ÖPNV-Shuttle, mobile Serviceroboter in der Reha und Pflege sowie Smart-Home-Technologien sind Beispiele für autonome, adaptive Systeme, die immer komplexere Aufgaben in allen Arbeits- und Lebensbereichen übernehmen.

5. Mensch-Maschine-Interaktion

Lernfähige Maschinen passen sich an individuelle Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen an und unterstützen sie im Alltag; ein Beispiel sind Industrieroboter, die sprichwörtlich aus ihren Käfigen kommen und dank KI als flexible Serviceroboter Hand in Hand mit ihren menschlichen Kollegen und softbots zusammenarbeiten. Die Distanz zwischen Mensch und Maschine verringert sich, nicht nur in der Fabrik, sondern auch im privaten Alltag, etwa in der Gesundheitsversorgung, der Mobilität und im privaten Wohnumfeld. Neben der physischen Manipulation der Umgebung durch Robotik gewinnt die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung an Bedeutung. In der Logistik kommt Augmented Reality (AR) zum Einsatz, um den Mitarbeiter bei der Kommissionierung zu unterstützen. Eine Datenbrille erweitert die tatsächliche Umgebung um virtuelle Informationen etwa zum Artikel, dessen Lagerort einschließlich Routenführung. Mittels Virtual Reality (VR) kann der Nutzer hingegen eine virtuelle 360°-Umgebung erleben und sich darin bewegen. Die Technologie wird für Produktkonfigurationen von Küchen oder Autos verwendet, aber auch für Schulungszwecke und für die Konfrontationstherapie bei Angststörungen.

6. Plattformmärkte

Digitale Technologieplattformen werden zum vorherrschenden Marktplatz für neue Geschäftsmodelle. Sie wirken produktivitätssteigernd, indem sie Transparenz schaffen und Akteure sowie Kapital und Ressourcen effizienter zusammenbringen (zum Beispiel auf Jobportalen) – und dies mit nahezu unbegrenzter Reichweite über das Internet. Dem Prinzip der circular economyfolgend, können etwa digitale Sharing-Plattformen zu mehr Effizienz und Nachhaltigkeit entlang des gesamten Produktlebenszyklus beitragen, indem Autos, Maschinen oder Wohnungen besser ausgelastet werden.

Einige Plattformen haben das Potenzial, etablierte Geschäftsmodelle anzugreifen. Beispiele sind Online-Vermittlungsdienste zur Personenbeförderung, im Übernachtungswesen oder Streamingdienste für Musik und Filme. Ein Charakteristikum von Plattformen sind Netzwerkeffekte. Je mehr Akteure die Plattform vernetzt, desto stärker profitieren die Teilnehmer von der Nutzung und desto attraktiver wird die Plattform für neue Kunden und Anbieter. Das schnelle und nachhaltige Wachstum von Plattformen entscheidet maßgeblich über ihren Erfolg im Wettbewerb. In den letzten Jahren haben amerikanische und chinesische Unternehmen wie Amazon und Alibaba, Google und Baidu sowie Facebook und Tencent, deren Geschäftsmodell auf digitalen Plattformen beruht, enormen Erfolg im B2C-Bereich gehabt. Derartige Plattformen entwickeln sich nun auch im Business-to-Business-Bereich (B2B). Hier greift das winner takes it all-Prinzip nicht zwangsläufig, weil Komplexität und Domänenwissen eine größere Rolle spielen. Neben den erwähnten Vorteilen haben Plattformmärkte auch strukturelle Schwächen, zum Beispiel Konzentrationstendenzen bis zur Monopolbildung durch Skalen- und Netzwerkeffekte; ein Thema, das dem sozialen Netzwerk Facebook Probleme bereitet. Damit steht auch das Wettbewerbsrecht vor neuen Herausforderungen. Wenn Datenmacht die Tendenz hat, bestehende Marktmacht zu festigen, muss geklärt werden, wann der »Missbrauch« von Datenmacht regulierungsbedürftig ist.

7. Digitale Ökosysteme

Kein Unternehmen verfügt allein über das notwendige Know-how, um im digitalen Zeitalter dauerhaft erfolgreich zu sein. Durch Co-Evolution und Kollaboration können Unternehmen gemeinsam und komplementär Lösungen für ihre Kunden anbieten und ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Wenn mehrere Innovatoren im Umfeld einer Plattform erfolgreich zusammenarbeiten, entstehen Innovationsökosysteme. Der globale Wettbewerb wird sich durch das Aufkommen digitaler Geschäftsmodelle und Plattformen verändern: Er wird vor allem zwischen digitalen Innovationsökosystemen geführt – nicht mehr nur zwischen einzelnen Unternehmen. Hier ergeben sich Chancen für Start-ups und den Mittelstand, die ihre sehr spezialisierten Kompetenzen in diese Ökosysteme einbringen können, ohne ein größeres unternehmerisches Risiko über den Aufbau eigener Plattformen eingehen zu müssen.

Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation

Abbildung 1

Die Entwicklung zu Hyperkonnektivität, Autonomie und verstärkter Mensch-Maschine-Interaktion führt dazu, dass Unternehmen ihre Kernprozesse effizienter gestalten und Produkte und Services digital veredeln können. Diese Entwicklung wird eher evolutionär verlaufen. Datengetriebene Geschäftsmodelle, Plattformmärkte und digitale Ökosysteme wirken hingegen disruptiv. Denn binnen kürzester Zeit können bislang erfolgreiche Geschäftsmodelle durch Dritte kannibalisiert werden – und zwar in allen Industrien. Diese neue Sichtweise auf die Ökonomie ist für viele »traditionelle« Branchen ungewohnt. Etablierte Geschäftsmodelle und bislang erfolgreiche Unternehmen werden von Start-ups, aber auch von branchenfremden Unternehmen herausgefordert – vor allem von großen Internetkonzernen.

Die Grenzen zwischen produzierendem Gewerbe, Dienstleistungsunternehmen sowie IT- und Internetbranche verschwimmen. Unternehmen benötigen neue Kompetenzen, etwa in den Bereichen IT-Sicherheit und durch KI unterstützte Datenanalyse. Zwar haben viele Unternehmen ihre »Smart Products« bereits an das Internet angeschlossen; sie sammeln und werten auch entsprechende Daten aus. Die Schnelligkeit und Radikalität, mit der gerade Geschäftsmodelle sich verändern müssen, werden dagegen noch unterschätzt. Wie ein solcher Prozess von der optimierten Produktion zu datengetriebenen Geschäftsmodellinnovationen aussehen kann, zeigt Abbildung 1. Auf die Vernetzung und das Agieren in Echtzeit um das klassische Produkt beziehungsweise die Dienstleistung herum folgen Optimierung und Effizienz auf der Produkt- und Prozessebene einschließlich neuer after-sales services. Die Erweiterung des Geschäftsmodells in Richtung products as a service und value-added services machen das Unternehmen zur Dienstleistungsorganisation. Über das neue digitale Geschäft entwickelt sich das Unternehmen schließlich zum Plattformunternehmen und / oder Teilnehmer im digitalen Ökosystem.

Veränderte Arbeitswelt als gesellschaftliche Aufgabe

Die Digitalisierung geht mit einem grundlegenden Wandel der Arbeitswelt einher. Mit ihr haben wir die Chance, Arbeit humaner, abwechslungsreicher und eigenverantwortlicher zu machen. Gleichzeitig ergeben sich ein Rationalisierungsdruck und neue Kompetenzbedarfe für die Belegschaften, die frühzeitig adressiert werden müssen. Unternehmen können die Chance der Digitalisierung nur dann optimal nutzen, wenn sie sich grundlegend anpassen. Erfolgskritische Handlungsfelder sind die Weiterbildung und das Lernen am Arbeitsplatz, eine agile, flexibilitäts- und kreativitätsfördernde Arbeits- und Unternehmensorganisation sowie eine zukunftsorientierte betriebliche Mitbestimmung. Lebenslanges Lernen ist ein zentraler Schlüssel für gesteigerte Produktivität sowie Innovationsfähigkeit und -tempo von Unternehmen. Die Befähigung zum kontinuierlichen Wissens- und Kompetenzerwerb und zum selbstständigen Arbeiten sichert aber vor allem die Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit der Mitarbeiter. Statt weiterer Spezialisierungen werden künftig hybride Kompetenzen gefragt sein (zum Beispiel Ingenieure mit Software-/Daten-Kompetenz). Entsprechender Bedarf sollte im Rahmen eines »nationalen Kompetenz-Monitorings« noch schneller antizipiert werden. Führungskräfte geben Entscheidungskompetenzen und -verantwortung ab und müssen versuchen, kreative Freiräume zu schaffen, um Diversität zu fördern.

Die digitale Transformation von Unternehmen

Gleichzeitig wird es für Unternehmen überlebenswichtig, flexibler und schneller auf veränderte Rahmenbedingungen, Technologie- und Marktanforderungen zu reagieren. In digitalen Ökosystemen können sie neue Partnerschaften etwa mit kleinen und mittleren Unternehmen und Start-ups eingehen, um Kreativitätsimpulse von außen zu erhalten und durch komplementär erweiterte, digital veredelte Leistungspakete im Wettbewerb zu bestehen.

Voraussetzung für einen erfolgreichen Wandel ist daher Ambidextrie – die Fähigkeit einer Organisation, parallel in der alten und in der neuen Welt aktiv zu sein. Nach dem Modell »Eine Organisation – zwei Betriebssysteme« müssen bestehende Stärken weiter genutzt und gleichzeitig ganz neue Strukturen erprobt werden. Unternehmen, die flexibler auf Veränderungen und individuelle Bedürfnisse reagieren, werden in Zukunft einen strategischen Vorteil erlangen.

Rechtliche Rahmenbedingungen und ethische Aspekte im Fokus

Mit der Einführung neuer Technologien gehen neue Herausforderungen und Regelungsbedarfe einher, für die ein einheitlicher Rechtsrahmen ausgearbeitet oder bestehendes Recht angepasst werden muss. Dazu zählen neben der Anpassung des Kartellrechts an die Besonderheiten digitaler Plattformen Fragen des Datenschutzes, der Haftung, des Arbeits- und Verbraucherrechts sowie des geistigen Eigentums. All dies kann mit Blick auf die Wettbewerbsposition Deutschlands nur sinnvoll beantwortet werden, wenn seine Einbettung in den internationalen Kontext angemessen berücksichtigt ist. Datenschutz, Schutz der Privatsphäre, IT-Sicherheit, Rechtssicherheit und ethische Aspekte werden hier als wesentliche Herausforderungen genannt.

Stichwort Haftung: Autonome Systeme sind hochgradig anpassungsfähig, reagieren auf Veränderungen in ihrer Umgebung und unvorhergesehene Ereignisse. Ihre nächste Aktion ist deshalb nicht vorhersehbar, und es fehlt in der Regel an einer Erklärungskomponente. Daher kann die Funktion oder Fehlfunktion des Systems unter Umständen nicht auf ein bestimmtes menschliches Handeln zurückgeführt werden. Eine Blackbox stellt im Schadensfall ein erhebliches Problem dar, da die Haftungsfrage mitunter ungeklärt bleibt. Bei neueren Methoden wie dem maschinellen Lernen mit künstlichen neuronalen Netzen (deep learning) gibt es noch kein von Menschen geschriebenes Softwareprogramm, das eine Erklärbarkeit ermöglicht. Allerdings arbeiten Unternehmen verstärkt an Lösungen zur Nachvollziehbarkeit von KI-basierten Lernergebnissen. So stellt sich mit der Einführung hoch automatisierter und autonomer Systeme im Straßenverkehr die Frage, wer Rechenschaft über Entscheidungen des autonomen Fahrzeugs abzulegen und mögliche rechtliche Konsequenzen zu tragen hat. Das deutsche Haftpflichtsystem weist das Risiko für einen Unfall im Straßenverkehr heute in letzter Instanz dem Fahrzeughalter zu. Zusätzlich haften die Hersteller über die gesetzliche Produkthaftung. Voll automatisierte und fahrerlose Fahrzeuge unterliegen aber weitergehenden Einflussfaktoren. Daher müssen neben Haltern und Herstellern des Fahrzeugs die Hersteller und Betreiber der Unterstützungstechniken des Fahrzeugs in das System der Haftungsteilung einbezogen werden.

Übernehmen autonome Systeme künftig Entscheidungen, die gesellschaftliche oder ethische Dimensionen aufweisen, dann werden auch die zuvor an die Menschen gestellten gesellschaftlichen und ethischen Anforderungen auf diese Systeme übertragen: Wie hat sich ein autonomes Fahrzeug in einer kritischen Gefahrensituation zu verhalten, etwa wenn ein Kind plötzlich auf die Straße springt? Autonome Systeme sind nicht von sich aus in der Lage, moralische Entscheidungen zu treffen beziehungsweise ihre Entscheidungen nach moralischen Maßstäben zu beurteilen. Sie verfügen auch nicht über ein Bewusstsein, wie es dem Menschen innewohnt. Die ethischen Anforderungen richten sich deshalb viel mehr auf den Prozess der Programmierung, der einem wertebasierten Design folgen soll und in dem bestimmte, auch grundgesetzlich verankerte Werte, wie etwa die Integrität von Leib und Leben (Art. 2, Abs. 2 GG) oder auch der allgemeine und spezielle Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), in den Wissensbasen oder dem Trainingsprozess der lernenden Systeme abgebildet werden. So muss sichergestellt werden, dass KI, die etwa über eine Kreditvergabe oder einen Vertragsabschluss entscheidet, nicht nach ethnischer Zugehörigkeit diskriminiert.

IT-Sicherheit und Datenschutz als kritische Größe

IT-Sicherheit war schon in der von Computerisierung und Automatisierung gekennzeichneten dritten industriellen Revolution ein beherrschendes Thema. Solange es aber nur um die Automatisierung von Prozessen innerhalb einer Firma ging, leisteten Firewalls gute Dienste. Charakteristisch für die vierte industrielle Revolution sind aber die totale Vernetzung und Autonomisierung nahezu in Echtzeit und das flächendeckende Entstehen digitaler Zwillinge. Das Internet der Dinge wird zur systemkritischen Infrastruktur; und wo die Schnittstellen zunehmen, steigt auch die Zahl der potenziellen Angriffspunkte. Die Auswirkungen einer Attacke breiten sich in vernetzten Systemen schneller und weiter aus als in isolierten. Software kann nicht nur leichter, sondern auch von überall auf der Welt angegriffen werden. Ein Bankraub erforderte bislang akribische logistische Vorbereitungen. Heute können Sie vom Liegestuhl am Strand aus Millionen über das Internet erbeuten. Der digitale Zwilling ist also angreifbarer als sein reales Pendant. Aber nach wie vor gilt: 80 Prozent aller Fehler beruhen auf menschlichem Versagen. Das zeigt: IT-Sicherheitstechnologien müssen insbesondere einfach, bequem und kostengünstig zu nutzen sein.

Wenn Daten zu einer erfolgskritischen Ressource werden, rückt auch die Frage nach den Eigentums- und Nutzungsrechten an den Daten und vertrauenswürdigen sowie nutzerfreundlichen Sicherheitslösungen in den Fokus. Denn auf digitalen Plattformen wertvolles Know-how zu verlieren ist eine Hauptsorge kleiner und mittlerer Unternehmen, insbesondere der in einer Nische operierenden Hidden Champions. Wir brauchen also Technologien, die eine angemessene Datensouveränität garantieren und die es jedem gestatten festzulegen, welche Daten mit wem geteilt werden können und welche absolut schützenswert sind. Die Blockchain-Technologie bringt hier einen erheblichen Nutzen: Denn sie ermöglicht geteilte Register, deren Vertrauenswürdigkeit und Sicherheit nicht durch einen zentralen Akteur, sondern durch das Netzwerk aller Nutzer sichergestellt werden. Sie bietet vertrauenswürdigen Zugriff auf geteilte Daten und sichere, nachprüfbare Transaktionen für alle Beteiligten. Damit hat sie das Potenzial, die Dominanz unternehmenskontrollierter Plattformen herauszufordern, und könnte Vertrauensinstanzen wie Banken, Kanzleien oder Behörden in Teilen obsolet machen. Ein Ansatz für die Wirtschaft ist der Industrial Data Space – ein sicherer Datenraum, in dem Unternehmen die Hoheit über ihre Daten bewahren und diese dennoch sicher bewirtschaften, verknüpfen und austauschen können. Damit bekommt jeder Beteiligte in der logistischen Lieferkette nur genau die Daten, die er benötigt. Natürlich muss Datensouveränität auch für den einzelnen Bürger gewährleistet werden. Hierbei müssen Informationen über die Verwendung und Speicherung der Daten transparenter kommuniziert werden.

Ein breiter gesellschaftlicher Dialog

Die Digitalisierung beeinflusst die Art und Weise, wie wir leben, arbeiten und lernen. Zu den bekannten Bedenken, wie der Sorge, dass der Mensch gläsern werde, der Entwertung der eigenen Kompetenzen und dem Verlust des Arbeitsplatzes, kommt die Angst vor Kontrollverlust und Unsicherheit hinzu. Wird »Arbeit 4.0« die Potenziale für mehr Selbstbestimmung der Erwerbstätigen, für bessere Arbeit und individuellere Qualifikation am Arbeitsplatz wirklich ausschöpfen? Werden genügend neue Jobprofile entstehen, um jene zu ersetzen, die im Rahmen der Transformation wegfallen? Wird es zu einer Polarisierung am Arbeitsmarkt kommen, da Geringqualifizierte stärker betroffen sind als Hochqualifizierte? Fest steht: Wir befinden uns an einem tipping point. Entsprechend ambivalent ist die Aussicht. Mithilfe von KI könnten auch Berufe mit höherem Qualifizierungsgrad automatisiert werden. Schätzungen für den juristischen Bereich gehen davon aus, dass 30 bis 50 Prozent der heute von Junganwälten erfüllten Aufgaben automatisiert werden können. Gleichzeitig entstehen ganz neue Tätigkeiten dank technologischer Entwicklungen. Arntz et al. gehen von leicht positiven Netto-Beschäftigungseffekten in Deutschland aus. Auch bietet die weitere Rationalisierung und Automatisierung des Arbeitsmarktes die Chance, die negativen Effekte des demografischen Wandels abzufedern.

Wollen wir die digitale Transformation also aktiv gestalten, brauchen wir einen sachlich-aufgeklärten Stakeholder-Austausch, in dem wir die Chancen und die Risiken gleichermaßen adressieren und Gestaltungsoptionen für die Politik aufzeigen. Mit der Aussicht auf bessere Arbeit und Bildung, personalisierte Medizin und Pflege sowie nachhaltige und individuelle Mobilitätslösungen, die ein selbstbestimmtes Leben in einer alternden Gesellschaft im eigenen Zuhause möglich machen, bietet die Digitalisierung allen Bevölkerungsgruppen, unabhängig von Wohnort und Alter, die Möglichkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben. Beruf und Familie sind in der neuen Arbeitswelt leichter zu vereinbaren, da Beschäftigte selbstverantwortlich über ihre Arbeitseinsätze mitbestimmen und neue Technologien wie Telepräsenz nutzen können. Somit sollte die digitale Transformation vielmehr als Chance begriffen und aktiv vorangetrieben und gestaltet werden. Denn Offenheit gegenüber Innovationen entscheidet mit über die Modernisierungs- und Wettbewerbsfähigkeit unseres Standorts.

Auf Wissenschaft und Forschung kommt es an

In Zeiten radikaler Transformation brauchen Unternehmen ganz neue Kompetenzen, beispielsweise in den Bereichen Datenverknüpfung und -analyse mittels KI und maschinellen Lernens. Diese suchen sie verstärkt in Wissenschaft und angewandter Forschung. Damit bekommt die Gestaltung und Optimierung des Wissens-, Technologie- und Erkenntnistransfers eine neue Dringlichkeit. Allerdings stehen auch die etablierten Formen des Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Wirtschaft vor großen Herausforderungen – sei es der Transfer über Köpfe, über Kooperationen oder über Ausgründungen. Gerade Start-ups bremst in Deutschland die Angebotslücke bei Anschluss- und Wachstumsfinanzierungen. Da ist zum Beispiel die Verkürzung von Innovationszyklen. Time to market ist oft wichtiger als die Perfektionierung eines Produktes. Oder das Entstehen von Plattformunternehmen und digitalen Ökosystemen. Es verändert bewährte Kooperations- und Transferbeziehungen. Unternehmen und Wissenschaft müssen sich für neue Kooperationspartner öffnen und dabei Kulturgrenzen überwinden. Der Transfer im Wissenschaftssystem sollte als dritte Mission neben Forschung und Lehre fest verankert werden. Wir brauchen eine noch engere Vernetzung von Wissenschaft und Wirtschaft für die Gestaltung der komplexen Zukunftsaufgaben.

Fazit: die Digitalisierung aktiv gestalten

Deutschland bringt als Innovationsstandort mit gut ausgebildeten Fachkräften, erfolgreichen Konzernen und Hidden Champions, seinen Stärken in der Business-IT und seinem Know-how bei Schlüsseltechnologien gute Voraussetzungen mit, um die digitale Transformation erfolgreich zu bewältigen. Deutschland ist Weltmarktführer beim Engineering und bei der Produktion von komplexen Produkten in höchster Qualität. In der Plattformökonomie müssen Produkte jedoch immer stärker digital veredelt und erweitert werden, um durch individualisierte Services international konkurrenzfähig zu bleiben. Das erfordert neue Kooperationsmodelle und offene Unternehmensgrenzen: Auch deutsche Unternehmen bauen zwar offene digitale Plattformen und entwickeln neue Geschäftsmodelle, doch die Umsetzung ist für viele eine große Herausforderung.

Die deutsche Forschungslandschaft hat in erfolgskritischen Bereichen wie semantischen Technologien, maschinellem Lernen sowie der digitalen Modellierung von Produkten und Benutzern eine international führende Stellung inne. Es gibt herausragende deutsche Softwareprodukte für die schnelle, zuverlässige und skalierbare Verarbeitung von Big Data und die Integration von Geschäftsprozessen. Während Deutschland seine Vorreiterposition als Ausrüster der Welt festigen will, setzen die USA auf ihre Kompetenz als globaler Vernetzer und China auf kurze Entscheidungswege, Kapitalintensität und einen großen Binnenmarkt, in dem sich schnell skalieren lässt. Im Ergebnis stellt Deutschland zwar zahlreiche Weltmarktführer in wichtigen Industrien und Produktklassen; die großen Internetkonzerne und Plattformunternehmen kommen aber überwiegend aus den USA oder Ostasien. Es gilt daher, die Stärken Deutschlands zu festigen, Defizite auszugleichen und die Umsetzung wichtiger Zukunftsaufgaben noch entschlossener anzugehen. Die gesellschaftlichen Herausforderungen etwa bei Bildung, Arbeit und ethischen Aspekten können über einen Schulterschluss aller Stakeholder und kluge Regulierung bewältigt werden. Die Politik ist auf einem guten Weg und hat entscheidende Maßnahmen eingeleitet.

Nationale Zukunftsprojekte wie die Plattformen »Industrie 4.0«, »Smart Service Welt« und »Lernende Systeme« eignen sich als zentrale innovationspolitische Beratungsgremien, um Expertise zu bündeln, vorwettbewerbliche Zusammenarbeit zu fördern, Anwendungsszenarien zu erarbeiten und Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft zu richten. Mit »Industrie 4.0« haben wir eine globale Marke aufgebaut, die dem Label made in Germany in Zeiten der digitalen Transformation erneut Glanz verleihen kann. Sie steht für eine Vision für qualitatives Wachstum nach dem Modell der sozialen Marktwirtschaft. Wir sind für viele Länder begehrte Kooperationspartner. Mit den Perspektiven der »Smart Service Welt« können wir eine nachhaltige Wirtschaftspolitik entwickeln, die eine Aufbruchsstimmung in Richtung digitale Geschäftsmodellinnovation und Plattformökonomie erzeugt. Die »Plattform Lernende Systeme« bündelt Kompetenzen im Bereich der künstlichen Intelligenz und begleitet auf dem Weg zur internationalen Technologieführerschaft. Und die von der Bundesregierung eingerichtete Ethikkommission zum automatisierten und vernetzten Fahren sowie die Plattform zur Mobilität der Zukunft zeigen, dass wir die richtigen Zukunftsthemen im Schulterschluss von Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik angehen. Nun dürfen wir bei der konsequenten Umsetzung der Zukunftsprojekte nicht weniger entschlossen sein. Gefragt sind Pioniergeist und der Wille, Veränderung zu gestalten. Vorreiter, die den Wandel als Chance nutzen, sind dabei besonders wichtig. Brechen wir also auf und gestalten die digitale Transformation unserer Arbeits- und Lebenswelt aktiv in unserem Sinne!

Gastbeitrag erschienen in:

Deutschland und die Welt 2030
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