Die meisten Privatpersonen stehen als juristische Laien vor offenen Fragen, wenn es zu einem rechtlich relevanten Konflikt kommt. Eine erste Einschätzung erfolgt häufig im Sinne einer „juristischen Selbsthilfe“ durch Anfragen bei Suchmaschinen.

Potenziale:

  • KI-basierte Expertensysteme können die Recherche unterstützen. In Kombination mit Methoden der KI-Sprachverarbeitung können auch umgangssprachlich formulierte Anfragen verarbeitet werden. Aus Rechtsdokumenten könnten relevante Informationen extrahiert und Antworten oder Informationen über juristische Dienstleistungen angeboten werden.
  • Chatbots könnten Formulare, Dokumente oder Nachrichten bereitstellen, um Kundenrechte einzufordern – etwa von Fluggästen gegenüber Fluglinien. KI-basierte juristische Chatbots gibt es seit einigen Jahren in der praktischen Verwendung.
  • Große Sprachmodelle könnten E-Mails oder Briefe passend zum individuellen Rechtsfall erstellen.
  • KI-basierte Assistenzsysteme haben damit das Potenzial, den Zugang zum Recht zu vereinfachen, vor allem für Personen, die sich bisher keinen Rechtsbeistand leisten konnten oder mit sich mit anderen Barrieren, wie etwa der Sprache, konfrontiert waren.

Herausforderungen und Grenzen:

  • Damit das Potenzial gehoben werden kann, müssen kostengünstige und frei nutzbare Angebote entstehen.
  • Die Methode der Auslegung von Gesetzen ist komplex. Das Recht gibt einen Rahmen vor, innerhalb dessen Richterinnen und Richter die Fakten eines Falles bewerten und beurteilen. Dabei spielen auch nicht objektivierbare Faktoren eine Rolle, wie das Ausbleiben von ehrlicher Reue oder unterschiedliche Auslegungen verschiedener Bezirke. Eine zusätzliche Rechtsberatung durch Anwältinnen und Anwälte wird weiterhin erforderlich bleiben.
  • KI-Sprachmodelle sind noch zu fehleranfällig: Immer wieder kommt es vor, dass Sprachmodelle wie ChatGPT aufgrund ihrer Funktionsweise Quellen, Urteile oder Paragrafen erfinden. In Kombination mit juristischen Expertensystemen könnte perspektivisch die Richtigkeit von Chatbot-Antworten verbessert werden.

Die anwaltliche Arbeit besteht zu einem großen Teil aus dem Prüfen und Erstellen von Texten. Dazu gehören die Korrespondenz mit den Mandantinnen und Mandanten und den Parteien eines Rechtsstreits ebenso wie Eingaben an das Gericht oder die Ausarbeitung von Verträgen. Die Erstellung dieser Dokumente ist häufig Routinearbeit. Sie bindet Ressourcen und verursacht hohe Kosten für die Klientinnen und Klienten.

Potenziale:

Spezifisch trainierte generative KI-Systeme können planbare Recherche- und Strukturarbeiten übernehmen:

  • unterschiedliche Dokumente mit Tausenden von Seiten durchsuchen
  • Informationen extrahieren
  • Informationen zu einem neuen Dokument zusammenfügen
  • automatische Zusammenfassungen erstellen

Herausforderungen und Grenzen:

  • Ausreichende Digitalisierung: Um das Potenzial heben zu können, müssen die Dokumente in den Kanzleien umfassend digitalisiert und strukturiert vorliegen.
  • Datensicherheit: Die verwendeten KI-Systeme müssen in einem sicheren und isolierten Datenraum laufen.
  • US-amerikanische oder chinesische Anbieter sind durch Gesetze ihrer Länder verpflichtet, auch personenbezogene Daten auf Anordnung von Behörden herauszugeben. Dies schließt viele KI- und Cloud-Dienste für den Einsatz in Kanzleien aus.
  • Fehleranfälligkeit: Um eine echte Entlastung bei der Erstellung von Schriftsätzen zu sein, sind Sprachmodelle wie ChatGPT zumindest auf absehbare Zeit zu fehleranfällig.
  • Der Einsatz von KI-Systemen in Kanzleien könnte zu einer Verschiebung der Marktstruktur und des Wettbewerbs führen. So kann es sein, dass sich nur große, international vernetzte Kanzleien den breiten Einsatz von KI leisten können. Kleinere Anbieter von Rechtsdienstleistungen könnten an den Rand des Marktes gedrängt werden, mit negativen Folgen für den Wettbewerb. Umgekehrt ist auch denkbar, dass kleinere Kanzleien durch KI-Anwendungen die Chance erhalten, die teilweise monopolistische Marktstruktur der Großkanzleien aufzubrechen.

In diesem Bereich sind Gefahren, Sorgen und Vorbehalte am größten. Die KI-Verordnung der EU stellt für diesen Einsatz besonders hohe Anforderungen. Auch die Potenziale sind besonders groß. Denkbar sind folgende Einsatzfelder.

Datenrecherche und intelligente Analyse vorhandener Informationen

Intelligente und automatisierte Gerichte und Gerichtssäle

Aufbau von Strafzumessungsdatenbanken mit KI

(Vorhersagebasierte) Unterstützungssysteme für richterliche Entscheidungen

In diesem Szenario ist KI nicht mehr darauf beschränkt, Richterinnen und Richter zu unterstützen, sondern tritt als eigenständiger Akteur mit weitreichenden Befugnissen auf. In einigen Ländern kommen bereits Prototypen solcher Systeme zum Einsatz. Das Oberste Volksgericht in Shanghai pilotiert ein Assistenzsystem, das Richterinnen und Richter umfassend in der Fallbearbeitung unterstützt. Das System basiert auf 35 Einzelsystemen, darunter Hilfssysteme für die Bearbeitung von Fällen, für die Erstellung von Urteilsdokumenten und für automatisierte Prozesssysteme. Ziel ist es, die Gerichte sowie die Richterinnen und Richter vor allem bei Zivil- und Verwaltungsfällen zu entlasten, die etwa 70 Prozent der verhandelten Fälle ausmachen. Bisher ist auch hier nicht vorgesehen, dass KI eigenständig Urteile fällt oder Richterinnen und Richter ersetzt.

Potenziale:

  • Verfahren beschleunigen
  • Kosten senken
  • Effizienz im Rechtswesen steigern

Herausforderungen und Grenzen:

  • Einschränkungen durch das Grundgesetz: Der Einsatz von Algorithmen zur abschließenden Entscheidungsfindung anstelle der Richterin oder des Richters als natürlicher Person ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
  • Objektivität: Künstliche Intelligenz hat theoretisch die Chance, Urteile unparteiischer und damit fairer zu treffen. Allerdings: KI-Entscheidungen bilden im Grunde nur die Realität vergangener Urteile ab. Es muss die Frage gestellt werden, ob eine rein sachliche Objektivität im Sinne der Rechtsprechung überhaupt gewünscht ist oder ob nicht auch menschliche Fähigkeiten zur Abwägung von Kontextfaktoren bei der Urteilsfindung eine Rolle spielen müssen.
  • Transparenz: KI-Entscheidungen sind aufgrund der komplexen zugrundeliegenden Systeme oft nicht transparent
  • Kommunikatorrolle: Richterinnen und Richter erläutern im Laufe eines Prozesses rechtliche Grundsätze und begründen dessen Auslegung. Entscheidungen sind so für die beteiligten Parteien oder wenigstens für deren Rechtsbeistände einsichtig. Ein „Roboter-Richter“ kann diese Funktion nicht abbilden.
  • Rechtsverständnis: Das Recht kann sich durch Entscheidungen ändern, die Präzedenzfälle revidieren oder neue Auslegungen von Gesetzen hinzufügen. Würden große Teile der Rechtsprechung auf KI-Automatisierung basieren, würde sich die Frage stellen, wie sich das Rechts(-system) noch weiterentwickeln kann. Eine auf Reproduktion beschränkte Rechtsprechung hätte keine Möglichkeit, sich an veränderte Lebensbedingungen anzupassen.