Desinformation in sozialen Medien erschwert die Meinungsbildung im Vorfeld von Wahlen. Welche Herausforderungen entstehen, wenn zusätzlich KI-Systeme zum Einsatz kommen?
Christoph Bieber: KI-Systeme können zur Begleitung und Gestaltung von Diskussionen auf digitalen Plattformen eingesetzt werden. Dadurch entstehen in den sozialen Medien mitunter noch unübersichtlichere Kommunikationssituationen als ohnehin schon. Daher ist es wichtig, dass die Teilnehmenden von Online-Unterhaltungen wissen, ob sie ein menschliches oder nicht-menschliches Gegenüber haben. Zugleich können KI-Systeme aber auch für mehr Übersichtlichkeit sorgen, wenn sie z.B. zur Erkennung und Unterdrückung von Falschinformationen eingesetzt werden. Darüber hinaus erweitern KI-Systeme das Spektrum von Falsch- und Desinformationen – etwa durch multimediale „Deep Fakes“, wenn Audio- und/oder Video-Statements bekannter Persönlichkeiten künstlich erstellt – also: gefälscht – werden. Auf diesem Weg ließen sich irreführende Kampagnen-Botschaften entwickeln und verbreiten, die eine ordentliche Wählerinformation erschweren würden.
In der digitalen Wahlkommunikation entstehen großen Mengen an Daten. Wie lassen sich diese für die Parteien nutzen?
Christoph Bieber: Seitens der Parteien können solche Auswertungen prinzipiell dazu beitragen, vorhandene Mittel besser und zielgenauer im Wahlkampf einzusetzen. Dabei geht es nicht um eine direkte Beeinflussung der Bürgerinnen und Bürger, sondern vielmehr um die Wahlkampforganisation, die dann eine bessere, passgenaue Ansprache der Wählerinnen und Wähler ermöglicht. Die automatisierte Auswertung von Social Media-Kommunikation eröffnet Möglichkeiten für ein großflächiges Themen-Monitoring im Wahlkampf. Empfehlungsalgorithmen könnten genutzt werden, um die innerparteiliche Gruppenkommunikation zu verbessern, während eine KI-gestützte Bilderkennung helfen kann, negative Kampagnenmotive der politischen Konkurrenz aufzuspüren und Reaktionen darauf zu erleichtern. Einen besonderen Wert entfalten solche Auswertungen in einer langfristigen Perspektive. Denn: Je mehr Daten vorliegen und parteiintern verarbeitet werden können, desto besser sind die Startvoraussetzungen in künftigen Wahlkämpfen. Allerdings: Von solchen „lernenden Systemen“ sind die Parteien noch weit entfernt, und das nicht nur in Deutschland.
Verspricht KI auch einen Nutzen für die Wählerinnen und Wähler?
Christoph Bieber: Auch aus einer bürgerschaftlichen Perspektive entstehen Potenziale: Durch KI-gestützte Verfahren können die vielfältigen Informationsmaterialien politischer Akteure entlang eigener Interessen vorsortiert und gesichtet werden. Eine solchermaßen verbesserte Auseinandersetzung mit Wahlprogrammen – und Wahlversprechen oder dem tatsächlichen Abstimmungsverhalten im Parlament – wäre eine Fortschreibung populärer Instrumente zur Wählerinformation. Gängige „Voting Advice Applications“ wie Wahl-O-mat, Wahlkompass, FollowtheVote oder WahlSwiper arbeiten bereits mit eigens entwickelten Empfehlungssystemen. Die Nutzenden können sie jedoch nur sehr eingeschränkt und innerhalb dieser Anwendungen personalisieren. Eine Art „digitaler Zwilling“, der das Online-Nutzungsverhalten (und gegebenenfalls auch politische Präferenzen) „seines“ Benutzers oder „seiner“ Benutzerin kennt, könnte aus dem kaum noch überschaubaren Informationsangebot zur Wahl die jeweils zur persönlichen Einstellung oder thematischen Interessen passenden Inhalte herausfiltern. Dabei ließe sich auch ein demokratisches „Vielfaltsgebot“ realisieren, wenn algorithmische Empfehlungen dazu beitragen, dass Internet-Nutzende einen „breiteren“ Blick auf die politische Landschaft werfen.
Das Whitepaper „KI-Systeme und die individuelle Wahlentscheidung“ der Plattform Lernende Systeme steht hier zum Download zur Verfügung.
Das Interview ist für eine redaktionelle Verwendung freigegeben (bei Nennung der Quelle © Plattform Lernende Systeme).