Frau Bullinger-Hoffmann, wie können KI-Systeme Menschen mit Behinderungen in der Arbeitswelt unterstützen?
Angelika Bullinger-Hoffmann: KI-basierte Technologien können Menschen mit Beeinträchtigungen auf zweierlei Weise unterstützen: indem sie die (körperliche) Beeinträchtigung ausgleichen oder indem sie ein barrierefreies Arbeitsumfeld gestalten. Beim ersten Ansatz stehen KI-gestützte Exoskelette oder Orthesen im Vordergrund, die direkt und vor allem individuell die physischen Fähigkeiten des Menschen erweitern. Dies ermöglicht eine Integration von Menschen mit Beeinträchtigungen in bestehende Arbeitsprozesse. Zudem können diesen Menschen dann auch neue oder erweiterte Rollen, Aufgaben und Tätigkeiten übernehmen, was der psychischen Gesundheit förderlich sein kann. Vorstellbar sind zum Beispiel KI-basierte Exoskelette, die Mechanikerinnen und Mechaniker je nach deren individuellen Fähigkeiten bei rückenbelastenden Tätigkeiten unterstützen.
Bei der Gestaltung eines barrierefreien Arbeitsumfelds werden KI-Systeme eingesetzt, um kognitive Beeinträchtigungen zu überwinden und Hürden abzubauen. KI-basierte Assistenzsysteme übernehmen dabei ab einer bestimmten Komplexitätsstufe die Steuerung eines Prozesses, leisten Lernunterstützung oder bieten sogar soziales Coaching.
Beide Ansätze sind, dem Prinzip des Design for all folgend, nicht nur für Menschen mit Beeinträchtigungen förderlich, sondern auch für andere Personen. Man denke bei KI-gestützter Sprachsoftware etwa an Menschen, die mit Akzent sprechen oder bei KI-gestützten Orthesen an ältere Personen, die so ihre Tätigkeit weiter mit Freude ausführen können.
Welche Voraussetzungen sind in den Unternehmen dafür zu schaffen?
Angelika Bullinger-Hoffmann: Die KI-Systeme müssen so gestaltet werden, dass sie tatsächlich und von Anfang unterstützen und nicht etwa zu einer Überforderung der Benutzerinnen und Benutzer führen. Daher ist es wichtig, die Beschäftigten frühzeitig ins Boot zu holen, wenn es um die Einführung einer solchen Technologie am Arbeitsplatz geht. In der Arbeitswissenschaft heißt dieses Prinzip Nutzerintegration und es konnte vielfach gezeigt werden, dass eine frühe Einbeziehung der späteren Nutzerinnen und Nutzer die Akzeptanz steigert, die Einführung erleichtert und Nachbesserungen reduziert. Gerade bei einer so „persönlichen“ Technologie wie einem KI-gesteuerten Exoskelett ist daher die Integration der Beschäftigten von Anfang an zentral.
Eine große Herausforderung ist außerdem die Datennutzung der KI-Systeme. Hier gilt es datenschutzrechtliche Anforderungen zu beachten, da die Systeme mit sensiblen und personenbezogenen Daten arbeiten (müssen). Eine transparente Kommunikation mit den Beschäftigten, welche Daten von wem und wo gesammelt und wie genutzt werden, ist dabei unerlässlich.
Zuletzt kann die Nutzung von KI-Technologien natürlich auch Abhängigkeiten aufbauen, sodass die Nutzenden nicht mehr gut ohne sie leben und arbeiten können, weil sie sich an die Unterstützung gewöhnen. Diese Abhängigkeit kann zum Anbieter des jeweiligen Systems aber andererseits auch zum Arbeitsplatz aufgebaut werden, an welchem dieses System bereitgestellt wird und einsetzbar ist.
KI-Systeme können Menschen mit Behinderungen auch weiter ausgrenzen, indem sie etwa einfachere Tätigkeiten vollständig übernehmen. Wie lässt sich Exklusion beim Einsatz von KI vermeiden?
Angelika Bullinger-Hoffmann: Es ist richtig: Die Arbeitssteilung zwischen Mensch und KI wird dazu führen, dass Aufgaben interdisziplinärer, kommunikativer, abwechslungsreicher aber auch komplexer werden. Dies geht mit höheren Anforderungen an die Kompetenzen der Beschäftigten einher – was insbesondere für Menschen mit Lernschwierigkeiten oder mit Beeinträchtigungen in sozialen und kommunikativen Kompetenzfeldern herausfordernd ist.
Zwei Gedanken dazu: Einerseits muss Teilhabe in der Arbeitswelt bereits bei der Teilhabe in der (Aus-)Bildung ansetzen. Wenn die Bildungslandschaft nicht inklusiv gestaltet ist, fehlen zwingend nötige Voraussetzungen, die Arbeitswelt selbst inklusiv zu gestalten.
Teilhabe zu realisieren bedeutet also in diesem Zusammenhang, die sich verändernde Arbeitsrealität wahrzunehmen und mit ihren Voraussetzungen so zu gestalten, dass der Einsatz von KI nicht zu mehr Exklusion führt. Zudem muss die Nutzung der KI-Systeme immer kontrolliert werden. Es ist zum Beispiel schon vorgekommen, dass KI-Systeme im Recruiting Entscheidungen treffen, die zu ungerechten oder unfairen Ergebnissen führen. Dies lässt sich dadurch erklären, dass eine KI-Software jede Bewerberin und jeden Bewerber gleich behandelt, auch wenn diese ungleich sind – zum Beispiel weil der eine Bewerber eine Lernschwäche hat und die andere ADHS. Hier muss das menschliche Recruiting eingreifen und ungleiche Bedingungen auch ungleich bewerten, indem zum Beispiel Noten anders gewichtet werden. Menschliche Fairness ist keine KI-Gleichmacherei. Solange dies allen Nutzerinnen und Nutzern der KI bewusst ist und entsprechend gehandelt wird, lässt sich Exklusion beim Einsatz von KI vermeiden.
Das Whitepaper “Mit KI zu mehr Teilhabe in der Arbeitswelt” steht zum kostenfreien Download zur Verfügung.
Das Interview ist für eine redaktionelle Verwendung freigegeben (bei Nennung der Quelle © Plattform Lernende Systeme).